Zehn Gräber, und jedes einzelne erzählt eine sehr persönliche Geschichte. Die eines ganz gewöhnlichen Menschen, der, getötet vom Assad-Regime, begraben wurde im Garten seiner Angehörigen. Die syrische Künstlerin Tania El Khoury schuf mit ihrer Installation „Gardens Speak“, gezeigt in der brut-Location „Galerie Die Schöne“, ein Mahnmal von ungeheurer Wirkung.
In einer industriell geprägten Seitenstraße gelegen, empfängt die BesucherInnen ein eher grobes Werkstätten-Ambiente. Selbst das Warten vor dem Eingang lässt mit Stahlspind und beschmierten, abgenutzten Sanitärräumen nur hoffen, dass hinter der Tür Anderes harrt. Ja. Ruhigen Schrittes, mit leiser Stimme und respektvoller Distanz führt ein Guide die ZuschauerInnen in den kargen, sauberen Vorraum mit zwei Bänken und dem Kleiderständer, weist ein in das, was kommen wird. Man darf die Füße entblößen, um das Erlebnis zu verstärken. Wir ziehen weiße lange Plastikmäntel an, bekommen eine Karte mit dem Namen „unseres“ Toten auf arabisch, eine Taschenlampe und werden in den hinteren Raum gebeten, in dessen Mitte ein langes, holz-umfasstes Rechteck mit schwarzer Erde und zehn Grabsteinen gesetzt wurde. Verteilte Grablichter auf dem Rahmen geben gedämpftes, warmes Licht. Die andächtige, fast heilige Atmosphäre nimmt gefangen.
Wir dürfen den Grabstein unseres Toten suchen, das Schriftbild gibt Auskunft, und legen mit den Händen in der Erde grabend einen mit beschriftetem Stoff geschützten Lautsprecher frei. Der (zum Schutz der Privatsphäre der Verstorbenen geänderte) Name erscheint unter den Krumen, und sehr leise Musik. Ich lege mich auf den Bauch, das Ohr ganz dicht an der Erde, schließe die Augen und lausche der Geschichte, die mir erzählt wird. Ich höre nichts anderes als ihre Geschichte. Die junge Frau war Lehrerin, sie hatte Freude an ihrem Beruf, bevor sie sich angesichts der vielen Verletzten im Widerstandskampf gegen das Regime dazu entschloss, als Krankenschwester ihren Beitrag zu leisten. Tumulte sind zu hören. Mit 24, beim Bergen von Verwundeten, traf sie die erste Kugel an der Schulter … Das Licht verlischt, arabischer Trauergesang folgt. Ich spüre, wie etwas Leichtes, zwei Mal, auf meinen Rücken fällt. Vielleicht eine Handvoll Erde? Tiefe Ruhe erfüllt mich. Wir haben viel Zeit, uns zu verabschieden. Und dann diese Zärtlichkeit, mit der ich die Erde streichele beim Versuch, meine Grabung etwas zu ordnen. Es sind kleine weiße Blumen, die der Guide auf uns und die Gräber geworfen hatte. Im Vorraum stehen zehn Schüsseln mit warmem Wasser bereit, für jeden ein Handtuch. Niemand spricht.
„ […] auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein.“ So wird Walter Benjamin im Programmzettel zitiert. Um ihre Toten einer politischen Instrumentalisierung zu entziehen und ihre Identitäten und Geschichten zu bewahren, wurden und werden unzählige Getötete, sofern man ihrer Körper habhaft wird, in privater Erde beigesetzt, oft ohne Grabstein. Die über 400.000 Toten des Assad-Regimes, ein Drittel der 18 Millionen Einwohner ist geflohen, Die Bilder der verwüsteten Städte, Kopf und Herz sind voll.
Umfangreiche Recherchen im Umfeld der Getöteten, mit Sorgfalt und vor allem Respekt geführt, ergaben diese zehn ins Englische übersetzten Geschichten von Leben und Tod dieser Märtyrer. Inszeniert in einem einzigartigen Setting, weit jenseits „normaler“ Theater-Bühnen, macht dieses Stück aus den BesucherInnen (An-)TeilnehmerInnen. Ihre Wirkung bezieht diese Arbeit insbesondere auch aus ihrer Nachwirkung. Was da in einem passiert, wenn man diesen reinen Ort verlässt, ist gewaltig. Jedem kommen andere Gedanken, jeder sieht andere Bilder. Deren Charakter jedoch ist sehr ähnlich. Ob es die Gefallenen der Weltkriege sind, die Toten der kommunistischen Regime, die Widerstandskämpfer in China, Kuba, Nord-Korea, in Saudi-Arabien oder im Iran, die ungezählten und unbekannten Opfer von Gewaltherrschaften Afrikas.
Dieser sprechende Garten kann uns, die wir hier und jetzt die Früchte des Kampfes Zahl- und Namenloser ernten, in Demokratie und ohne Unterdrückung und Krieg leben, aus dumpfer Gewöhnung herausführen in die Wahrnehmung der Fragilität jedweder politischen und gesellschaftlichen Schein-Stabilitäten. Trauer, Mitgefühl, Demut und Dankbarkeit erfüllen mich. Noch sehr lange. In dieser bewegenden Arbeit liegt so viel Kraft. Denn wenn uns Kunst bewegt, bewegen wir uns.
„Gardens Speak“ von Tania El Khoury, gezeigt im brut Wien in der Galerie Die Schöne, am 28. November bis 1. Dezember 2019 in insgesamt 18 Durchführungen.