Über die posttraumatische Belastungsstörung einer Gesellschaft. Meg Stuart begibt sich in ihrer jüngsten Arbeit mit dem indonesischen Künstler Jompet Kuswidananto auf eine Forschungsreise in das Innere Post-Suharto-Indonesiens. Drei PerfomerInnen und zwei MusikerInnen bewegen sich durch unsichtbare seelische Ländereien, Hinterlassenschaften einer jahrzehntelangen Diktatur.
Der Himmel ist zum Greifen nah. Hunderte tief hängende Glühbirnen, das Lichtdesign stammt von Jan Maertens, schaffen mit ihrem gedimmten warmen Licht Atmosphäre auf der vierseitig vom Publikum gerahmten Bühne (Installation von Jompet Kuswidananto). Die schon im Foyer eingespielten Klagelaute finden sich hier wieder. Jule Flierl, Gaëtan Rusquet und Claire Vivianne Sobottke drehen sich langsam mit geschlossenen Augen, wispern, heulen, weinen, begleitet von der Livemusik der Japanerin Mieko Suzuki (DJ und Sound-Artistin) und des indonesischen Gitarristen Ikbal Simamora Lubys, der seine Gitarre mit Bogen und Messer streicht bis malträtiert.
Die Nachwirkungen der 33 Jahre langen, bis 1998 währenden Gewaltherrschaft des Generals Suharto in Indonesien waren Quelle und Inspiration für das Duo Stuart/Kuswidananto. Nach Vor-Ort-Recherchen und in Zusammenarbeit mit dem PerformerInnen-Trio entstand diese formal zweiteilige Arbeit. Aus der Klage entwickeln sich Artikulationsversuche, zwischen Verzweiflung und Kampf. Körper und Stimmen finden zum Selbstausdruck, die Einschreibungen der Unterdrückung bleiben sicht- und hörbar. Eine kleine „Fackel im Ohr“ leitet eine lange, totale Finsternis ein. Die zu Beginn des zweiten Teiles von den Dreien beschriebenen Erinnerungen an (auch außer-europäische) scheinbare Idyllen, Hochzeitsgesellschaften, Rock-Konzerte und Pionier-Halstücher erzählen wie nebenbei von Schuld und Leid, vergessen, weil verdrängt, Überwachung und ideologisch verbrämter Gemeinschaftlichkeit. Und Claire Vivianne Sobottke karikiert ihre Sorge um ihr kleines, bedrohtes Glück. Ein Highlight.
Mit Kostümen zwischen Tradition, Tourismus und Fantasie (von Jean-Paul Lespagnard) formulieren sie ihre innere Zerrissenheit, leben sie weitere temporäre Identitäten, tanzen das krachende Inferno. Sobottke im blinkenden Lämpchen-Kleid, schieben sie gemeinsam einen Lautsprecherwagen durch die Halle. Ein indonesischer Pop-Song (verbotenen, da er den Präsidenten, einen singenden Mörder, kritisiert) erklingt. Und Gaëtan Rusquet entstaubt den Himmel ...
Meg Stuart formulierte das Material, mit dem alle gemeinsam das Stück erarbeiteten. Improvisation in Bewegung und im Einsatz der Stimme und trance-artige Zustände waren ihre Mittel bei der Erforschung der psychischen Frakturen, der seelischen Quetschungen und der geistigen Amputationen. Die Stimme, die ihr eigenes Leben entwickelt und zum Sinnbild des inneren Chaos und des Dranges nach Selbstausdruck wird, erhält eine herausragende Stellung als Überbringer der Botschaft. Und alle drei überzeugen mit diesem Instrument. Die politischen, sozialen und gesellschaftlichen Traumata, vor allem aber die individuellen, formt Stuart durch ihr performatives Experimentieren zu einem Mosaik, das wie Magma zu amorphen Abbildern der Seelen eines Volkes erstarrt.
Das „nicht mit sich verbunden sein“ wird zum zentralen Motiv des ersten Teiles. Die Hinweise im zweiten Teil auf aktuelle Gewaltherrschaften und Diktaturen und auf die in unserer (europäischen) Geschichte, untrennbar verbunden mit deren Fortleben in Form von psychischer Vererbung auf individueller und von Ideologien auf gesellschaftlicher Ebene sind konsequent gedachte Parallelen. Die Wurzeln sind die gleichen, die Wirkungen ähneln sich: Die inneren wie die äußeren Diktatoren, der Freiheitsdrang unterdrückter Seelen und Völker.
Meg Stuarts Stücke sind immer wieder eine Herausforderung. Die Komplexität der Bilder mit deren mehrschichtiger Metaphorik, mit der sie auch in „Celestial Sorrow“ das Publikum konfrontiert, erfordert vor allem emotionale Arbeit, die, ist sie einmal als Aufgabe erkannt und anerkannt, zu weit über das Stück hinausreichenden Erkenntnissen führen kann. Pars pro toto. Was für ein Geschenk.
Meg Stuart wurde 2018 auf der Biennale in Venedig mit dem goldenen Löwen für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Mit 53 Jahren ...
Meg Stuart / Damaged Gods: „Celestial Sorrow“, am 28. November 2019 im Tanzquartier Wien.