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LouiseLecavalier1Die Faszination von Energieflüssen durch Mikrobeweglichkeit lässt sich gewiss nicht ins Unendliche steigern. Doch sobald Louise Lecavalier die Bühne betritt, wird sie zum Magneten. Zu einem entfesselten, quecksilberartig zeitlos dahingleitenden Wesen in einem wandlosen Aquarium aus Licht (Lightdesign: Alain Lortie). Selbst wenn gerade nur isolierte Bereiche ihres Körpers in Aktion sind, ist sie der Inbegriff von Tanz total.

Sich mit vollem Einsatz zu verausgaben, ist seit mehr als 35 Jahren das Markenzeichen dieser in ihrer dynamischen Eigenwilligkeit nicht aufzuhaltenden Tanzikone Kanadas. Fast 20 Jahre lang war sie Frontfrau und Muse der revolutionären Kompanie La La La Human Steps um deren Gründer Édouard Lock. Eigene Produktionen der Powertänzerin – die sie nach wie vor ist – sorgen bis heute für Furore. Definitiv niemand sonst hätte die Gastspielreihe depARTures, die diesmal der innovativen Tanzszene Québecs gewidmet ist, in solch krass minimalistischer und reif strukturierter Konzentriertheit eröffnen können.

Mit ihren 62 Jahren stellt Lecavalier in ihrer jüngsten Soloperformance „Stations“ – ein Verweis auf Jahreszeiten und Himmelsrichtungen – eine abendfüllende Variationsflut vor: an hyperpräziser Feinmotorik, subtiler einbeiniger Balanceakrobatik und enormer Ausdrucksbreite. In schwarzem Outfit und mit wasserstoffblonder Mähne zerbrechlich und unzerstörbar zugleich. Nach den zuletzt in München gezeigten Duetten „So blue“ und „Battleground“ frappiert Lecavaliers durchtrainierte Zartheit einmal mehr. Diesmal in einer berührend einsamen Schlacht.LouiseLecavalier2

Sie weiß den Fokus auf flinke, kleinstmobile Beinarbeit zu lenken. Dann verschiebt sie diesen auf Kopf und Oberkörper, welche sie mehrfach extrem nach vorne und hinten krümmt. Immer aber ruht besonderes Gewicht auf der Intensität und dem Raum-Körper-Verhalten ihrer Arme und der nicht selten flattrigen Hände. Sich wiederholende Bewegungsbausteine speisen die abstrakt durch vier Abschnitte fließende emotionale Fülle.

Stets aufs Neue lässt sich Lecavalier von der rockig-jazzigen Klangatmosphäre elektrisieren (Musik: Saxofonist Colin Stetson u.a.), durch die sie so mühelos wie ein unter Strom stehendes Pixelkonglomerat driftet. Solche Befindlichkeitsbilder nehmen einen assoziativ gefangen.

MelanieDemersWie sich die meisten Künstler derzeit fühlen müssen, machte Mélanie Demers deutlich. Im Nachgespräch zu „Icône Pop“ – ihrem 35-minütigen Kaleidoskop über Frauenbilder – sprach sie aus, was die vier Gastspiele der städtisch geförderten Tanzreihe depARTures von den Außenbedingungen her einte: „Es ist extrem außergewöhnlich und zugleich unglaublich schön, die weite Reise von Kanada nach München angetreten zu sein, um hier – zum ersten Mal seit über sechs Monaten – vor so wenigen Zuschauern zu performen.“

Ihr Beitrag war das Knallbonbon dieses Minifestivals mit Stücken, mustergültig dazu gemacht, Publikum und Interpret(en) für die jeweilige Aufführungsdauer sensorisch zu verkoppeln. Auf stets absonderliche Art und Weise. Ohne Möglichkeit, den energetischen Entladungen einer immer noch großartigen Louise Lecavalier, Daniel Léveillés unbarmherzig rigidem Konvolut seriell abrupt ausgeführter, sperriger Technik oder dem unerbittlichen Sich-Wiederholen und schonungslosen Insistieren einer sich langsam steigernden Bewegungsschleife von Daina Ashbee auszukommen. Dass sich erst aufgrund von Beharrlichkeit ein rezeptiver Effekt einstellte kann man rückblickend als zweite Klammer benennen.

Eine blaue Abdeckplane als gloriose Abendrobe um den Körper drapiert, ausstaffiert mit Heiligenschein, Sonnenbrille und megalanger Halskette legte Demers los. Schritt für Schritt wuchtig anzusehen auf ihrem imaginären, von Zuschauern auf Abstand gesäumten Laufsteg. Ein sich Schicht für Schicht häutendes Chamäleon, das sukzessive mit seiner Kostümhülle weibliche Rollenklischees von Unschuld, Scheinheiligkeit, Mütterlichkeit und verklärtem Ruhm ablegt.

Was nach diesem Striptease auf einem Treppchen sitzen bleibt, ist Demers performativer Höhepunkt. Mit heller Kunstbrust („eine dunkle gab es in Montréal nicht zu kaufen“), die sich die Tochter eines Afrikaners und einer Kanadierin angeklebt hat, bricht sie aus – in einen verbalgespickten Orkan aus Lachen. Das Bild einer selbstgewiss Verlassenen. Ganz herrlich befreit von jedweder sich überstülpender Männlichkeit. Das darf man als feministisches Statement lesen. Muss es aber nicht.Leveille

Zuvor hatte man Maskulinität satt präsentiert bekommen. Von vier Tänzern, die sich in der gegen Perfektion und Ausführungsschönheit gebürsteten, acht Jahre alten Choreografie „Solitudes Solo“ von Daniel Léveillé nacheinander an aus dem Stand heraus zu bewältigenden Drehungen, Streckungen, Balancen und Sprüngen abarbeiteten. Da prallte einem sportive Schroffheit entgegen, die sich mit der Zeit zu herbem Charme wandelte – lediglich einmal konterkariert durch den barbusigen Körper einer Frau. Auch für den Betrachter eine Tour de Force, akustisch umspült von Bachs Musik, die schlussendlich mit „Somewhere over the Rainbow“ und unter sich in die Dunkelheit saugendem Rotlicht überraschend sachte ausplätscherte.

Ein paralleles Nebenher von Klang und Bewegung fand man auch in Daina Ashbees Solo „Serpentine“ vor. Mit dem Unterschied, dass hier das von Jean-Francois Blouin eigens kreierte Sounddesign abstrahierte Körperlichkeit dramatisch befeuerte – vergleichbar der komponierenden Lyrikerin Mykalle Bielinsky, die ausgehend von Dvořáks „Stabat Mater“ Mélanie Demers live begleitet hatte.

AshbeeVöllig nackt auf einer ölig rutschigen und glänzenden Tanzbodenbahn schaffte die gebürtige Mexikanerin Areli Moran es, über 70 Minuten lang allein durch ihr Sein zu fesseln. Scheinbar endlos wie Sisyphos dazu verdammt, den maskierten Gesichtern um ihre schneckenschmierige Spur herum wieder und wieder dieselbe Sequenz vorzuführen. Aggregatszustände werden durchlebt. Erst liegt man flach am Boden zusammengeklappt. Aus der Krötenhaltung entfaltet sich ein Vierfüßler, der schließlich platt auf dem Bauch über den Rest der Strecke robbt. Nur den Weg zurück zum Anfang geht Moran aufrecht. Insgesamt dreimal. Mehr und mehr verklebt mit aufgelöstem Zopf.

Die aufs Neue bemerkenswerte Gastspielreihe geht noch vom 5. bis 8. November futuristisch mit Isabelle Van Grimdes Company Corps Secrets und der Performance-Installation „Eve 2050“ in der Münchner Muffathalle weiter. Reflektiert werden soll dabei die Zukunft von Mensch und Körper im Zeitalter digitaler Technologien, biomedizinischem Fortschritt und künstlicher Intelligenz.

Louise Lecavalier: „Stations“ (7./8. Oktonrt), Daniel Léveillés „Solitudes Solo“ (13./14. Oktober), Mélanie Demers‘ „Icône Pop“ (16./17. Oktober) und Daina Ashbees Solo „Serpentine“ (19./20. Oktober).  Gastspielfinale vom 5. bis 8. November mit „Eve 2050“ (Tanzperformance & Installation) der kanadischen Kompanie Van Grimde Corps Secrets. Muffathalle, im Rahmen von Joint Adventures / Access to Dance.

TIPP: Alle die Vorstellungen ergänzenden Künstlergespräche wurden aufgezeichnet und sind auf YouTube kostenfrei abrufbar.