Im Alltag etwas auf die Spitze zu treiben, ist für kaum jemanden völlig unbekannt. Wie aber steht es darum bei Tänzerinnen, wenn sie ebendies bühnentauglich ihrem Körper abverlangen? Die Reihe „ABC des Tanzes“ im Grazer Opernhaus beantwortet derartige Fragen, gibt Einblick in den Alltag der Ballettwelt. Die erste Veranstaltung dieser Art seit Jänner 2020 war dem „Training auf der Spitze“ gewidmet.
30 Minuten vor Beginn jedes derartigen Programms kann das Publikum dem Warm-Up beiwohnen. Das Interesse daran hat auch nach der Corona-Pause nicht nahgelassen und bis zum eigentlichen Programmstart waren die Reihen der Studiobühne endgültig gefüllt: Tanz ganz nah zu erleben, ist, verbunden mit Fachinformation, ein gutes, ein faszinierendes Angebot. So manch Detail in der Bewegung, so manch Exaktheit in der Ausführung ist auch vom besten Platz kaum wahrzunehmen auf einer großen Bühne. Und die Theorie, die weiß Ballettdirektorin Beate Vollack immer wieder und so auch an diesem Abend lebendig und instruktiv zu vermitteln: Mit detaillierten, ja unverblümten Erklärungen und „Tricks“ zu den Herausforderungen rund um Basisbewegungen im Spitzentanz öffnet sie auch einem Laien die Augen; und wenn dann die Tänzerinnen die praktische Umsetzung vorführen, öffnet sich auch noch so mancher Mund. Gerade auch, weil Vollack neben Witz und Späßchen durchaus Kritik an der konkreten Ausführung der Tänzerinnen einfließen lässt: Diese macht die Leistung des Gezeigten noch bewusster, lässt in der Wiederholung die Korrektur, die Verbesserung erkennen und damit die Bewegung besser begreifen.
Nach einer kurzen Geschichte des Spitzenschuhs und zum Teil überraschenden Erklärungen zur gelebten individuellen Handhabung und Praxis rund um diesen, kam auch noch der Spitzentanz selbst zu Wort:
Aus dem Bedürfnis der Tänzer und Tänzerinnen nach gemeinsamer Bewegung (zusätzlich zum täglichen Training), waren in der Zeit des weitgehenden Stillstands jeglicher Vorstellungen step by step Tanzszenen entstanden: Geworden sind sie zu „Der Tod und das Mädchen“ in einer Choreographie von Ballettmeister Sascha Pieper, aus der im gegebenen, schmucklosen Rahmen als Überraschung sehr gelungene Schlüssel-Szenen aus dem zweiten und dritten Satz zur Aufführung kamen: In einer choreographisch kontinuierlichen, tradierten Klarheit überzeugend der Tod, der in 3 Pas de deux sowie einem Solo von 4 Tänzern mit kraftvoller Individualität und minimal, aber fesselnder Variation in der markanten Kostümierung, ebenfalls von Pieper, als situationsangepasste Variante des Phänomens Tod interpretiert wird.
Gegensätzlich in bester Weise die drei „Mädchen“: in der jeweiligen, atmosphärisch sehr stimmigen Choreografie, in ihrer tänzerischen Interpretation sowie ihrer Darstellungskunst. Die von ihnen in diesen Ausschnitten gezeichneten Gefühlspalletten, angesiedelt zwischen Sehnsucht und Gelassenheit, Auflehnung, Angst und Getriebenheit, Hoffnung und Verzweiflung, sind von berührender Dichte; eine Gesamtaufführung dieser feinsinnigen Arbeit scheint sehr wünschenswert.
ABC des Tanzes: Das tägliche ABC – Training auf der Spitze, am 1. Oktober 2021 in der Studiobühne Grazer Opernhaus.