An drei Tagen und täglich sechs Stunden lang tanzten sechs Performer*innen in den Büroräumen des Tanzquartier Wien. Der in Wien lebende Schwede Alexander Gottfarb transformiert in seiner Performance „Encounters #2“ den Arbeitsalltag. Und die inzwischen zur Ikone gewordene österreichische Choreografin und Performerin Doris Uhlich untersucht in „Gootopia“ den Schleim auf ihre Weise. Und sie dringt tief in dessen Wesen ein.
Alexander Gottfarb: „Encounters #2“
Auf die sechs Tänzer*innen Alexander Gottfarb, Katharina Illnar, Nanina Kotlowsky, Raúl Maia, Anna Maria Nowak und Charlotta Ruth trifft das Publikum in den Büros des TQW. Deren Charakter, intim und individuell, ist auch der der Begegnung mit den Performer*innen. Allein oder zu zweit reagieren sie aufeinander, auf ihre jeweilige Umgebung und auf die Zuschauenden, die hier in einen für sie normaler Weise nicht zugänglichen Bereich eindringen dürfen. Sie wechseln, wie Kollegen sich besuchen, die Lokationen, beziehen deren Topografie nicht nur ein, sie gehen in direkte Zwiesprache mit den Orten und Dingen, machen sie zum Co-Performer.
Sie übersetzen das, was eigentlich in diesen Räumen geschieht, die ständige Wiederholung strukturell ähnlicher, nie gleicher Arbeitsabläufe und die inhaltlich-sachlichen Druck- sowie die emotionalen Schwankungen der dort Arbeitenden in Tanz. Auch unter Einsatz von Stimmen lassen sie die Intensität der Bewegungen und die der Energiebögen an- und abschwellen. Repetition und Variation, Öffnen und Schließen in einem meist mit der Atmung synchronisierten Rhythmus und wellenförmiger Energiefluss sind die choreografischen Vorgaben. Sehr nah bei ihnen erlebt man den Prozess der Entstehung von Tanz.
Wenn Anna Maria Nowak mit einem Fenster dessen Auf und Zu zelebriert oder Alexander Gottfarb am Kopierer auf und nieder tanzt. Von irgendwo hört man Stimmen, fast wie Kanon-Gesang. Oder wenn Nanina Kotlowsky den runden Besprechungs-Tisch mit Setzen und Aufstehen in seinem Wesen beschreibt oder im Techniker-Büro ihr „It's okay!“ vom aggressiv Konfrontativen in ein beschwichtigendes, so sanft Verständnisvolles gleiten lässt, begleitet von öffnend-schließender Gestik. Das geht unter die Haut.
Mit der Erstaufführung von „Encounters #2“, #1 war ein fünfzig-stündiger Tanz-Live-Stream aus einer leeren Fabrikhalle („Tanz ist Arbeit“), gelingt es Alexander Gottfarb und seinen Tänzer*innen, auf in jeder Sekunde faszinierende Weise die diesen Stätten innewohnende Poesie zu extrahieren, sie ins Sicht- und Spürbare zu transformieren und diese Büros in geradezu spirituelle Orte zu verwandeln. Und das, so darf man wünschen, möge das Leben und Arbeiten dort künftig färben.
Doris Uhlich: „Gootopia“
Eine dem Lebendigen eigene Ur-Substanz wird zum Mit-, fast schon Hauptdarsteller in Doris Uhlichs neuestem Stück, hier uraufgeführt. Der Schleim als lebensnotwendiger, in Pandemie-Zeiten wegen möglicher Tröpfchen-Infektion aber auch bedrohlicher Stoff erlebt in „Gootopia“ seine Auferstehung aus Gefilden, in die er von Reinheit, gar Sterilität postulierenden gesellschaftlichen Idealen verdrängt wurde. Die Vielfalt an Aspekten, die Uhlichs aufwändige Recherchen darüber in ihr Bewusstsein brachten, versucht sie in dieser Utopia dem Publikum zu vermitteln.
Die sechs Performer*innen sind nackt, meistens jedenfalls. Sie sind es nicht, weil es ein Stück von Doris Uhlich ist; für ihr Faible für Nacktheit ist sie bekannt. Das Ursprüngliche, Elementare und Existentielle des Schleimes lassen keine andere Kostümierung als die der eigenen Haut zu. Diese natürliche Grenze zwischen einem menschlichen Körper und seiner Umwelt stellen Pêdra Costa, Ann Muller, Andrius Mulokas, Emmanuel Obeya, Camilla Schielin und Grete Smitaite allerdings vielfältig in Frage. Wenn sie sich Schleim wie eine zweite Haut überziehen, und das auch gegenseitig, oder ihn in den Mund nehmen, sogar schlucken (er soll Zitronengeschmack gehabt haben), um ihn hernach aus dem Mund rinnen zu lassen, durchbrechen sie diese Grenze und berichten damit von der Illusion des Getrenntseins.
Das nicht nur haptisch Unfassbare am Schleim, sein das Fluide und das Solide verbindender und damit Ambivalenzen in einem Sowohl-als-auch auflösender Charakter machen ihn zu einer metaphorischen Fundgrube, in die Doris Uhlich ganz tief hineingräbt. Das, was diese Arbeit dem ersten Eindruck nach zu sein scheint, ein virtuoses Spiel der Performer*innen mit drei Arten von in vielen Eimern bereitstehendem gelben Schleim, flüssiger und fester, wandelt sich mit dem Einlassen auf das Gezeigte und dem Zulassen eigener Assoziationen und Emotionen in ein äußerst vielschichtiges, bedeutungsschwangeres Spektakel mit tief-, zuweilen abgründiger Bildsprache.
In Schlangenlinien auf der Bühne und Tribüne ausgelegte Begrenzungen dienen nicht nur der Eindämmung des am Boden und auf den Körpern bearbeiteten Schleimes. Das Design der begehbaren Bühne (Juliette Collas, Philomena Theuretzbacher) in der Halle G, die das Publikum durch nur den linken der zwei oben liegenden Eingänge betreten kann, löst nicht nur die Grenzen zwischen Bühne und Zuschauerraum sowie Performer*innen und Publikum auf. Es weist aus dem Theater hinaus. Damit öffnet Uhlich den eh schon erweiterten Kunst-Raum zum Leben hin.
Zwischen Ekel und Faszination, Abstoßung und Lust, bloß-weit-weg und ich-will-auch liegen die Empfindungen der Zuschauenden, während man die langsam sich entwickelnde Show sieht. Dem Kennenlernen, sich Vertrautmachen folgen unzählige Einzel-, Gruppen- und Paar-Aktionen. Ja, auch kopuliert wird einmal. Wütend dreschen sie auf den Schleim ein, zärtlich streichen sie ihn auf ihre Haut, lustvoll spüren sie das Eingehülltsein in die glibbrige Masse. Durch einen Geburtskanal schlüpfen sie. Ein sich am Boden windender Wurm aus sechs Menschen teilt sich in zwei, dann mehrere Segmente. Und in Schleim gehüllt, bewegungslos verharrend, tropft es, lange Fäden ziehend, von ihren ausgestreckten Armen. Sie lassen ihre Körper zerfließen. Die Auflösung von festen Strukturen, denen des Körpers, denen des Ichs und denen der eigenen Seele. Weil wir alle Eines sind.
Im Kreis hockend, das Bindende eines sich schier unendlich ziehenden Stoffes erlebend, verknoten sie sich bald in einen glitschigen Körper-Klumpen. Gegenseitige Durchdringungen physischer, psychischer und spiritueller (im Wortsinne:) Natur. Oder sie scheinen frisch geschlüpfte Aliens zu sein. Genügend Filme mit schleimtriefenden Monstern lassen uns erschauern. Doch die Aliens sind wir. Die uns unbekannten, weil unbewussten Aspekte unseres Selbst, aus dem Dunkel aufsteigend in Form von nicht kontrollierbaren Emotionen lassen uns ebenso erschauern. Und flüchten in die Sicherheit des Rationalen.
Eine Frau klatscht ihr Haar, ihren Körper, ihr Hinterteil verzweifelt an die Wand. Sie erlebt die Grenze zwischen Fluidem und Solidem, zwischen Freiheit und Ordnung. Etwas später kehrt Uhlich die Verhältnisse um. Aus dem eigentlich uns Schützenden, aus Kapuzenjacke und Gummistiefeln, quillt der Schleim von innen. Denn das, wovor es eigentlich Schutz braucht auf diesem Planeten, ist der Mensch.
Boris Kopeinig setzt seine Musik, fein arrangierte Techno-Beats und subtile Sound-Kollagen, mit Bescheidenheit und Zurückhaltung ein. Lange Pausen erlauben, das Schmatzen, Schnalzen und Glucksen des Schleimes zu hören. Das Licht kommt von Phoenix (Andreas Hofer) und Gerald Pappenberger.
Der Rahmen, in den Doris Uhlich die Performance bettet, ist so etwas wie Evolution. Bis hin zum Versuch eines aufrechten Ganges. Beim Versuch soll es bleiben. Der Untergrund ist einfach zu rutschig. Sich gegen das formenlose Fließen zu wehren ist sinnlos. Mit dieser Erkenntnis gleiten sie zurück in den Schleim. Und mit der von der Vergeblichkeit jedes Kontrollversuches, vom zum Scheitern verurteilten Herrschaftsanspruch des Ratio über das Emotio, von der nicht Greif- und nicht Formbarkeit des Lebens, vom ständigen Wandel der einen Existenz und von der Fluidität als Seinsweise alles Existierenden. Davon erzählt „Gootopia“, die Dimensionen von Zeiten und Räumen einend. Lassen wir es fließen!
„Encounters #2“ von Alexander Gottfarb und „Gootopia“ von Doris Uhlich am 16. Oktober 2021 im TQW.