In „Parotia“ spielt die Hauptrolle der Rock. Ein stofflicher Augenschmeichler in wellenförmig aneinander vorbeilaufenden Farben: lila, dunkelrosa, weiß und türkis. Den Saum hat Kostümbildner Josa Marx mit schwerem Gummi auf ca. sieben Kilo Gewicht pro Stück gebracht. So kann der bodenlange, weite Glockenschnitt den Körper des Performers bei entsprechendem Schwung umrahmen wie ein Teller. Eindrucksvolle visuelle Effekte, deren Inspirationsquelle sich zum ägyptischen Volkstanz „Tanoura“ zurückverfolgen lässt.
Innerhalb einer abstrahiert-sinnlichen, imaginären Reise, die einen vom Sufi-Wirbeln zum Dirndldrahn führt und dazwischen Assoziationen an die legendären Serpentinentänze einer Loïe Fuller oder an Oscar Schlemmers Bauhaustänze weckt, wird daraus auch eine Materialität, durch die sich eine Art Daseinsselbstverständlichkeit manifestiert – und mit der es eine Stunde lang variationsreich umzugehen gilt. Motorisch auf improvisatorischer Basis – nur der begleitende, für die Ohren eher ungemütliche, elektronische Klangkosmos des iranischen Musiker-Duos „9T Antiope“ bleibt von Aufführung zu Aufführung gleich.
Etwas Erstaunliches hat Léonard Engel da angekurbelt. Nach drei Monaten rein auf das Phänomen des Drehens konzentrierter Recherchearbeit. Mittels choreografischer Bausteine erzeugt er eine Sogwirkung, die den Zuschauer ähnlich hypnotisch in Bann zu ziehen vermag wie das Balztanzen des im Titel zitierten Strahlenparadiesvogels (lat.: Parotia sefilata).
Mit Gizem Aksu, Lisa Stertz und Angelo Petracca schickt der ehemalige Solist des Bayerischen Staatsballetts, der seit 2016 als ernstzunehmender freischaffender Künstler in Berlin und München lebt, drei Tänzer von den Ecken des neuen Schwere Reiter hinaus auf das leere Bühnenkarree. Rundum nimmt das Publikum Platz. Als die Uraufführung beginnt, brennt noch helles Licht. Leises, wie entferntes Sirren erfüllt den Raum. Womöglich hören wir zuerst sogar nur reine Scheinwerferpräsenz.
Langsam, einer nach dem anderen, treten die Performer in die Arena – frei von jeglicher inhaltlichen oder formalen Überfrachtung. Ihre Augen sind anfangs geschlossen, das Rotieren um die eigene Achse zeitenlupenhaft. Leicht abgespreizt in Derwisch-Manier lassen Arme und Hände an Ruder denken. Im Trancezustand ein erdendes Stabilisierungsinstrument, später bei den wilderen Spiralfiguren kommen ornamentale Qualitäten hinzu.
Die Röcke wellen und straffen sich. Im sich dabei aufbauenden Energiefluss verpufft allmählich alle Personalität. Lichtstimmungen ändern sich. Stoff und Farben wirbeln in immer weiteren Bögen, Linien und Diagonalen wie nimmermüde Spielzeugkreisel herum. Als es irgendwann im Soundcluster eiert und quietscht werden aus Röcken schräg die Luft durchsägende Scheiben. Spürte der Zuschauer beim nahen Vorbeidefilieren der Tänzer erst nur ab und an einen luftigen Zug, macht die Performance an ihrem kinetischen Höhepunkt plötzlich ganz schön viel Wind. Befremdliches Pfeifen und Tuten bringt noch flinkere Tänzerbeine zum Hüpfen. Dann bremst ein feueralarmartiges Glockenschrillen auf einen Schlag die ganze Wucht ab.
Engel hat noch für einen zweiten Teil gesorgt. Die Tänzer dürfen ihr schweres Kostüm nun greifen, sich an die Brust pressen und im Weiterdrehen über den Kopf ziehen. Ihre Transformation endet. Man legt die Röcke neben sich am Boden ab. Was dann passiert, ist abstrus. Und zugleich völlig konsequent. Keiner der drei Tänzer findet mehr in die Vertikalachsigkeit zurück. Als umgäbe sie nun Schwerelosigkeit, bewegen sie sich im Astronautenstil. Unterscheidbar lediglich am Rest partieller Bodenhaftung. Insgesamt schwindelerregend brillant.
Léonard Engel: „Parotia“, Premiere am 19. November 2021 im Schwere Reiter, München