Bernstein, Sondheim, Robbins, „West Side Story“, das Broadway-Musical von 1957, der Film von 1961: Ikonen US-amerikanischer Kultur. Kein Wunder also, dass eine Ikone Hollywoods die erste Neuverfilmung nach 60 Jahren wagt. Vermutlich hat Steven Spielberg in seiner ersten Musical-Adaption, die „dank“ Corona mit einjähriger Verspätung in die Kinos kam, sogar das meiste, wenn nicht alles so gemacht, wie man es heute machen muss. Und doch…
Spielberg und sein Drehbuch-Autor – auch kein Geringer: Tony Kushner – siedeln die Handlung im New York der Entstehungszeit des Musicals an. Grandios die Eröffnung: Über ein Baustellenschild, auf dem das künftige Lincoln Center samt Metropolitan Opera zu sehen ist, führt die Kamera (Janusz Kamiński) in eine dystopische Landschaft. Trümmer abgerissener Gebäude und schäbige, dem Abriss geweihte Häuser des Elendsviertels der Upper West Side bilden die Szenerie für die Revierkämpfe der „Jets“ und „Sharks“, für die unglückselig Liebenden Romeo und Julia alias Tony und Maria.
Kulturtempel ersetzen günstigen Wohnraum: Vergangenheit und Gegenwart. Gentrifizierung, noch kein Schlagwort damals, aber so aktuell wie heute, setzt den Rahmen. Auch sonst zeigen Spielberg und Kushner, dass es ihnen bei allem Fünfziger-Jahre-Ambiente um eine „West Side Story“ für heute geht. Die Gewalt ist gewalttätiger als 1961 unter der Regie von Robert Wise und Jerome Robbins. Die sozialen Ursachen der ethnischen Spannungen werden klarer herausgestellt. Die Hilflosigkeit des Polizisten Krupke ist erbärmlicher, der Rassismus seines Vorgesetzten Schrank niederträchtiger, der Graben zwischen Alt und Jung, zwischen ernüchtertem Lebenspragmatismus und jugendlicher Kompromissunfähigkeit, tiefer.
Letzteres zeigt sich in der neuen Figur der Ladenbesitzerin Valentina. Sie tritt an die Stelle des „Doc“ als dessen hinterbliebene, puerto-ricanische Frau. Ihre Geschichte wiederholt sich in den Konflikten der Jungen: Nichts ist besser geworden. Gespielt von Rita Moreno, der Anita von 1961, gehört ihr – statt Tony und Maria - die Ballade „Somewhere“, und wohl nie klang deren Vision friedvollen Zusammenlebens so schmerzlich schön, weil völlig unwahrscheinlich: Die Utopien sind tot. Auch das fühlt sich sehr „heutig“ an.
Alle Rollen sind erstklassig besetzt, und trotz ihres „Damals“-Looks sind die Figuren unsere Zeitgenossen. Rachel Zeglers Maria fügt sich nicht stumm, sondern begehrt beredt auf gegen Bevormundung, ist ungestümer als die Maria 1961 von Natalie Wood. Ansel Elgorts Tony, weit entfernt davon, so brav zu sein wie jener Richard Beymers, ist tief verunsichert über sich und seine Neigung zu rauschhafter Gewalt. Die weiblichen Rollen sind selbstbewusster, selbstbestimmter gestaltet als vor 60 Jahren, voran die hinreißende Anita Ariana DeBoses, die männlichen verbitterter, verlorener, mit Riff (Mike Faist) und Bernardo (David Alvarez) als Gefangene ihres Hasses. Ein/e Schauspieler/in nicht-binären Geschlechts (Iris Menas) verkörpert „Anybody“. Und Bernsteins Kompositionen ergänzend, wird die Identität der „Sharks“ durch die in grimmiger Selbstbehauptungspose vorgetragene Nationalhymne Puerto Ricos betont. Eine „nervöse“ Handkamera, die in Momenten innerer Aufruhr wackelnd nah an die Protagonisten heranfährt, tut das ihre, die Anmutung von Heutigkeit zu verströmen.
Wie Justin Pecks Choreographien. Mit Anspielungen an das ikonische Vorbild verbeugen sie sich vor Jerome Robbins, setzen sonst aber auf eigene Farben und Schwerpunkte. Etwa in der mitreißenden Sequenz, in der die Freunde Tony und Riff ihren Streit über Sinnlosigkeit versus vermeintliche Notwendigkeit von Gewalt auf buchstäblich brüchigem Boden und stets am Abgrund tanzend austragen. Wie hier, so ist die Choreographie durchweg gezielt für das Medium Film gestaltet. Zentrum und Fokus verändern sich permanent mit den Bewegungen der Kamera, immer führt die Kamera auch „in“ die Tänze hinein, tanzt mit. Das entspricht der Inszenierung der Gesangsnummern als Erweiterungen der gesprochenen Texte, mit sanften, oft geradezu verborgenen Übergängen zwischen Sprache hier und Musik und Gesang dort, darin unterstützt durch die erstaunlich nüchternen, die Emotionen nur zurückhaltend dosierenden Einspielungen der Musik unter Gustavo Dudamel.
All das summiert sich zu einem sehenswerten, bewegenden, schönen „West Side Story“-Film. Und doch… 1961, in ihrer Verfilmung auf der Grundlage der Bühnenfassung, schufen Wise und Robbins zwei Ebenen: Innerhalb einer „realistischen“ Spiel(film)handlung bewahrten sie den theatralischen Charakter der Gesangs- und Tanznummern, gaben ihnen den Raum und Rahmen, ihre Wirkung so zu entfalten, wie sie für die Bühne konzipiert war. Das mutete und mutet artifizieller an als Spielbergs heutige Herangehensweise – und zugleich doch zeitloser, berührender, „wahrer“ auch im Sinne der Wahrheit des Theaters.
So könnte gerade der Umstand, dass Spielbergs „West Side Story“ allein den Gesetzen des Films verpflichtet ist, deren „Haltbarkeit“ begrenzen. In 60 Jahren werden wir’s genauer wissen. Oder eben früher.
PS: Weniger als sechs Jahrzehnte sollten vergehen bis ein heutigeres Konzept für die deutschen Lied-Untertitel gefunden ist. Die haben oft wenig, manchmal nichts mit dem Original zu tun, kommen nur in seltenen Momenten der Poesie und dem Wortwitz Stephen Sondheims nahe. Wer sich in eine Vorstellung der deutsch synchronisierten Fassung verirrt (was freilich auch das Erlebnis aparter Erfindungen wie „Versuchsschweine“ für „guinea pigs“ beschert), ist deshalb gut beraten, gar nicht erst mitzulesen - oder Maßnahmen zur Unterdrückung von Lachanfällen zu ergreifen.
„West Side Story“, USA 2021, basierend auf dem Broadway-Musical (1957) von Arthur Laurents, Leonard Bernstein, Stephen Sondheim, Jerome Robbins. Regie: Steven Spielberg, Drehbuch: Tony Kushner, Musik: Leonard Bernstein, Choreographie: Justin Peck. Uraufführung: 29. November 2021, New York. Kinostart weltweit: 9./10. Dezember 2021. Vertrieb: 20th Century Studios.