„Wir sind schön.“ So die mit spinaler Muskelatrophie geborene und damit auf den Rollstuhl angewiesene deutsche Sängerin, Schauspielerin, Tänzerin, Autorin und Regisseurin Lucy Wilke im Ankündigungstext für ihre Performance „Scores that shaped our Friendship“. Gemeinsam mit dem Performer Paweł Duduś und unterstützt von der Musikerin Kim Ramona Ranalter aka Kim Twiddle beschreibt sie, was ihre Freundschaft ausmacht. Und sie gehen damit unter die Haut.
In dieser Arbeit, hier als Österreichische Erstaufführung, jedoch bereits europaweit gezeigt und für weitere Aufführungen, unter anderem in Finnland, gebucht, lässt das Bühnen- und private Paar Wilke - Duduś die Hüllen fallen. Nicht um Haut zu zeigen, sondern Seele. In sieben Kapiteln führen sie die im Halbkreis um ihr kuscheliges weißes Matratzenlager herum sitzenden ZuschauerInnen durch Aspekte ihres Lebens, ihrer Beziehung, ihrer Freundschaft. Unterschwellig aber geht es um viel mehr.
„1. Mein Körper“ macht uns mit dem ganz besonderen Körper der Lucy Wilke und seinen Un-Möglichkeiten bekannt. Gesprochener Text beschreibt parallel ausgeführte einfachste Bewegungen, unterlegt mit elektronischen Sound-Flächen. Paweł Duduś hält sie vor sich, auf sich, rollt und kriecht mit ihr ganz vorsichtig ein kleines Stück. Die Zärtlichkeit überfraut und übermannt einen. „In meiner Vorstellung bewege ich mich sehr graziös.“
„2. Survival of the fittest“, das Darwinsche Prinzip. Paweł startet vom Sofa hinter dem Publikum aus, von dramatischer Orchestermusik und Perkussion angefeuert, einen raubkatzen-gleichen Angriff auf die wehrlose Lucy vorn. Angeschlichen kommt er, geschmeidig seinen Körper durch die Reihen Richtung Zentrum windend. Er beschnuppert, beißt sie. Sie jauchzt. Er tötet sie. Umschlungen sitzen sie in „3. I recall“ auf dem Lager. Kim Twiddle gibt geloopten Atem in den Saal. Liebesspiel zum immer schneller stampfenden Techno. Er streichelt sie danach. Kim kommt hinzu, füttert sie mit Smarties. Dreisamkeit im sanft wechselnden Licht.
„4. Streching time, testing your patience“ wird zur Vorführung, wie er sie letztlich in den Rollstuhl bringt. Helles Licht, pochender Sound. Sie zählt laut, gibt ihm Anweisungen, was er im Rollstuhl zu beachten, zu erledigen hat. Das Erleben einer Prozedur, die beim Fußgänger Aufstehen und Anziehen heißt. Sie küssen sich lange, während Kim weiter zählt und er den Rollstuhl langsam dreht. „Was gibt es Neues an der Dating Front?“ fragt er sie in „5. A tribute to Tinder“. Die lange Liste der Portale, auf denen sie aktiv ist, lässt staunen. Dass sie ein schönes Gesicht hätte, höre sie oft. Auf die Strumpfhose, die er ihr über den Kopf zieht, malt er mit starken Farben ein Gesicht. Nicht schön. Der Sound wiederholt elektronisch verfremdet: „Du hast so ein schönes Gesicht.“
„6. Es ist wirklich einfach“. Keiner müsse vorgeben, jemand Anderes zu sein, sagt er, und zieht sich einen sexy Leotard an. Was sie sehr mag? Wenn er kurz vor dem Schlafengehen einen süßen Lullaby für sie tanzt. Rhythmischer Sound, hochhackige Stiefeletten, Gay-Attitüde, an der Wand, auf der Matratze im lila Licht. Beinahe wie Kate Winslet auf dem Bug der Titanic schwebt er mit ausgebreiteten Armen über ihr auf ihrem Rollstuhl Richtung Musik-Pult, wo er, zu ihrer sichtlichen Erbauung, auf allen Vieren mit seinem Körper und seinem Po, den sie nicht aus den Augen lässt, vor ihr schwingt und wackelt. Sie beschreibt, wie sie aufsteht, durch die Tür hinausgeht und „7. The house over there“ am Ende der Straße sieht. Ob sie wohl darüber springen können? Er sagt, wie es geht. Mit leichten Gedanken und dann kräftig abstoßen. 1, 2, 3! Jeder träumte schon den Traum vom Fliegen ...
Wir sind stark. Grenzen sind nur die, die wir uns selbst setzen. Und wir sind schön! Das mag die Botschaft sein, die das Stück in die Welt sendet. Nicht nur in die der Fußgänger. Die impliziten Botschaften: Körper- und geschlechtliche Identitäten wurden und werden genährt von familiären, sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Autoritäten. Aber sie, die Identitäten, sind adaptierbar. An das, was wir aus den Tiefen der ins Ungeliebte und Unbewusste eingegrabenen Relikte unseres Selbst ans Licht des Bewusstseins und damit ins Leben zurück holen. Was dann noch bleibt, ist immer das Gleiche: Die Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit, nach Akzeptanz und Toleranz, nach Wärme und Nähe.
Die Zärtlichkeit und die Authentizität der PerformerInnen nehmen gefangen. Paweł Duduśs Empathie und die Selbstverständlichkeit seiner physischen Unterstützungsleistung beeindrucken. Die mentalen, psychischen Stärken beider und ihre Wertesysteme begegnen sich auf Augenhöhe. Das macht ihr privates und künstlerisches Miteinander möglich. Entstanden aus einer/ihrer tatsächlichen Beziehung und diese auf die Bühne bringend, schafft das Stück es trotzdem, über diese private Dimension hinaus Werte für ein erfülltes, zufriedenen Leben zu beschreiben und zu vermitteln. Von Achtung und Respekt geprägte Koexistenz, die das Trennende überwindet. Kooperation, die außergewöhnliche und ungemein öffnende und bereichernde Erfahrungen ermöglicht. Das Andersartige als Teil von uns selbst.
Jenseits aller Explizitheit, Zärtlichkeit, Fürsorge, Akzeptanz und bedingungsloser Liebe spricht das Stück vom Fremd- und Andersartigen, das bei näherer Betrachtung dem Unseren, dem Meinen doch sehr ähnelt und somit das Stereotyp als Begriff diesbezüglich ad absurdum führt. Nähe und Zärtlichkeit als elementares menschliches Bedürfnis, Körper und Seele durchdringende menschliche Wärme, sensitive Erfahrung und somit Leben in einer die Alltäglichkeit ergänzenden, vielleicht überwindenden Weise. Ihre Ehrlichkeit und die des Stückes sind überwältigend. Und der Charme der Lucy Wilke ist bezaubernd. „Scores that shaped our Friendship“ ist ein höchst sinnlicher, poetischer, herzerwärmender Genuss.
Für dieses Stück, das zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde, erhielt Lucy Wilke 2020 den Theaterpreis „Der Faust“ in der Kategorie Beste Darstellerin Tanz.
Lucy Wilke, Paweł Duduś mit Kim Twiddle mit „Scores that shaped our Friendship“ am 27. Jänner 2023 im Tanzquartier Wien.