Schonungsloser Totaleinsatz für das Ballett des Staatstheaters am Münchner Gärtnerplatz: Die Uraufführung von Andonis Foniadakis՚ neuem Tanzabend „Troja“ wird zum bedrückenden Antikriegs-Mahnmal und thematisiert bildgewaltig die Verzweiflung, schutzlos und ausgeliefert zu sein.
Es ist ein seltsam kruder neuer Ballettabend, der vergangenen Freitag am hochsommerlichen Gärtnerplatztheater Premiere hatte. „Troja“ des international gefragten Choreografen Andonis Foniadakis aus Kreta und Ex-Chef des griechischen Nationalballetts will weder gefällig noch bequem sein. Zugleich besticht sein Ballettwerk ästhetisch. Das Bühnenbild besteht aus nur wenigen klaren Elementen und ist dabei szenisch so imposant wie wandelbar – auch dank einer subtilen Lichtregie (Sakis Birbilis). Schlicht und dennoch symbolisch verspielt in ihrer farbigen Detailliertheit sind die Kostüme (Anastasios-Tassos Sofroniou). Lokalkolorit und zeitgenössischer Anstrich fusionieren in diesem Stück, das musikalisch in eine raumfüllende, akustisch eindrückliche Klanglandschaft eingebettet wurde. Dabei verbindet sich – mal das Gefühl innerer Stimmungsleere, mal die Dynamik von Kampfeslust schürend – das von Julien Tarride eigens kreierte Sounddesign mit Kompositionen von Arvo Pärt und Bryce Dessners „Lacrimae“, die das Orchester unter Michael Brandstätters Leitung passgenau filigran-bleiern live spielt.
Wenn zum Schluss die an den blauen Trikots der Tänzerinnen und Tänzer aufgenähten Quasten bei jeder Schlängelbewegung des Oberkörpers mitschwingen, wirkt das plötzlich, als ob da nicht eine Gruppe Menschen tanzt, sondern Wellen. Das wogende Meer wird zum Bild einer aufgewühlten Gemeinschaft. Wenig später verzieht dann wieder Schmerz ein Gesicht. Die Verzweiflung, schutzlos und ausgeliefert zu sein, lässt eine Interpretin dermaßen zusammenklappen, dass ihre Ellbogen und Unterarme lautstark auf den Boden krachen. Ohne bestimmte Rollenzuweisung mutiert sie zur kaputten, in sich verhedderten Marionette – nur dass bei Foniadakis nie etwas hölzern über die Rampe kommt. Sogar zerschunden und dem Tode geweiht strahlen in „Troja“ die eigentlich permanent emotionaler Qual ausgesetzten Körper unglaubliche Kraft und Energie aus. Das macht diese Uraufführung so brachial wie verstörend schön.
Inhaltlich von Euripides antiker Tragödie „Die Troerinnen“ ausgehend hat Foniadakis mit der Gärtnerplatz-Kompanie ein dezidiert tanztheaterartiges Gruppenstück entwickelt. Seine ganz abstrakt-fragmentarische Herangehensweise überrascht – auch wenn die Verweigerung charakterlicher Zuordenbarkeit nicht jeden auf Anhieb überzeugt haben dürfte. Sein Zugriff ist weniger knackig und tänzerisch komplex als unheimlich reich an momenthaften Assoziationen. Vieles ist auf Archaik und Martialisches ausgelegt. Damit wird jedoch keine lineare Geschichte wie in Euripides’ dramatischer Vorlage erzählt. Vielmehr werden Gedankensplitter daraus und darüber heraufbeschworen. Sich darauf eineinhalb Stunden einzulassen, mag schwerfallen, haftet „Troja“ doch etwas sehr Traumatisierendes an. Beharrlich wiederholen sich Szenen voller Schmerz und Verzweiflung. In dieser Iterativität liegt einerseits die Schwäche von Foniadakis՚ Tanzabend, andererseits auch seine Stringenz und Stärke.
Sporadisch vereinen sich die Tänzerinnen und Tänzer in folkloreartigen Formationen, die Zusammengehörigkeit heraufbeschwören. Dann wieder brechen sie zusammen, greifen nacheinander, helfen sich oder ringen sich gegenseitig nieder. Die Geschlechter – ob Opfer oder Täter – verschwimmen. Im Lauf der Choreografie mag das ein Abstumpfen des Mitfühlens beim Zuschauer zur Folge haben. Was nachvollziehbar erscheint, wenn man bedenkt, dass sich schier alles um die Erschütterung jeglicher Normalität, um Erniedrigung, Vergewaltigung und Vernichtung alles Feindlichen dreht. „Troja“ spielt im Nachgang der verheerenden Katastrophe des Trojanischen Kriegs. Und ebendiesen setzt Foniadakis sinnbildlich als Mahnmal für die bewaffneten Konflikte aller Zeiten unter uns Menschen ein.
Zu Beginn versammelt der Choreograf 14 Tänzer gleich Karyatiden unter einem lichten Tempeldachgerüst aus goldenen Stangen. Darunter ist jeder Move exakt austariert. Foniadakis Zeitreise zurück in die mythologische Ära seiner griechischen Heimat beginnt mit kleinen Schritten, Drehungen um die eigene Achse und weichen Schwüngen der Arme. Vor dem Chaos allgemeiner Zerstörungswut und individueller Pein wird anfänglich das Beherrschen totaler Kontrolle zelebriert – bis so etwas wie ein Beben die Architektur zum Einsturz bringt.
Die steif aufgerichteten Körper steigern sich zu knirschender Elektroakustik mit dumpfen Einschlägen langsam in ein immer eckigeres Stampfen und Marschieren. Die Interpreten gehen zu Boden. Auch später werden sie ab und an laut schreien. Sie schnallen sich vom Dachfirst ab, den sie – nun frei, sich unabhängig von den anderen überall hin zu bewegen – weiter gemeinsam über ihren Köpfen zu tragen versuchen. Vergebens. Der Friede ist dahin. Eine furios barbusig tanzende Amazone mit goldenem Schild lässt daran keinen Zweifel. Nach faszinierenden ersten 15 Minuten bauen sich seitlich der Bühne dicke Festungsmauern auf. Am Boden schieben sich dreieckige Keile dazwischen, die am Ende noch einmal anders zum Einsatz kommen werden: als verspiegelte Bruchteile einer in Schutt und Asche gelegten Stadt, über die Flammen lodern, während davor ein Mann und eine Frau sich in einem langen Duett begegnen. Der letzte Blick auf die im gewaltsamen Liebesakt bezwungene Frau ist der auf ihr nach hinten geneigtes und zum stummen Schrei verzerrtes Gesicht.
Die griechische Tragödie im 5. Jahrhundert v. Chr. sollte auch nicht nur bloß „schön“ oder „überwältigend“ sein, sondern einer „Katharsis“ der Zuschauer dienen: einer Art psycho-physischen „Durchspülung“. Genau in diese Tradition stellt sich Foniadakis mit seinem Ballett „Troja“ – als moderner, assoziativ wirkender Neuinterpretation des antiken Mythos. Den Sieg tragen am Ende die famosen Tänzerinnen und Tänzer davon. Mit ihrem schonungslosen Totaleinsatz sind sie – wiederholt solistisch und oft im Kollektiv – die eigentlichen Helden dieses choreografischen Abenteuers.
Ballett des Staatstheaters am Gärtnerplatz : „Troja“, Ch: Andonis Foniadakis, Premiere am 28. Juni 2024 am Staatstheater am Gärtnerplatz. Nächste Vorstellungen: 21., 24. September, 12., 13., 17. Oktober