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Empire1Wer sind wir und warum, wer bin ich und wie bin ich so geworden? Der steirische herbst steht in seiner 57.Ausgabe unter dem Titel „Horror Patriae“. Was und inwiefern das jeweilige Herkunftsland Einfluss auf das gemeinsame und individuelle Sein hat und/oder Erschreckendes haben kann, das setzen die zahlreichen Veranstaltungen des Festivals künstlerisch um – in überaus breiter Vielfalt.

Der Grazer Autor Christian Winkler findet in seinem dokumentarisch-fiktionalen Text (wie so oft) einen perspektivenreichen Zugang zum übergeordneten Thema: „EMPIRE: Rooting for the Anti-Hero“ nennt er seine unter dem Namen Franz von Strolchen erarbeitete Inszenierung, die er, diskret untertreibend, als ‚musikalische Diashow‘ beschreibt. Die Fotos sind ausgewählte Dokumente der Fußballspiele eines in den 30er Jahren regional erfolgreichen steirischen Vereins bei einer Meisterschaftstour im heutigen Indonesien. Alle 19 Spiele enden „selbstverständlich“ siegreich für die Europäer: Die Überlegenheit der dort, in der „Alten Welt“ geborenen Menschen auch in sportlicher Hinsicht aufzuzeigen war ja schließlich der durchorganisierte und in diesem Sinne arrangierte Hintergrund der mit einem Sieg der Gäste vorprogrammierten Wettkämpfe. Und für Winkler der Anstoß, eine der perfiden imperialistischen Machenschaften aufzuzeigen, die Geprägtheit – im Guten wie im Bösen – der Menschen von ihrem und durch ihren Geburtsort bewusst zu machen; ob sich dies bewusst oder unbewusst äußert. Die steirischen Fußballspieler wussten etwa in diesem Fall nichts vom gegebenen ‚Fake‘. Aber vielleicht taten sie auch nur so. Jedenfalls wird aus Original-Tagebuchaufzeichnungen eines Reisebegleiters zitiert; in szenischer Lesung, ganz hervorragend in indonesischer, niederländischer und deutscher Sprache sowie in breitem steirischen Dialekt überzeugend und charmant-abwechslungsreich von Marten Schmidt, einem Performer aus Jakarta, präsentiert. Da geht es um Exotisches, um Abenteuer, um Essen und Trinken, um witzige Anekdoten und Erlebnisse. Gesellschaftskritisches oder gar Gedanken zum Leben der Einheimischen oder zur Kolonisation – all dies wird von den ‚großen Sportlern‘ nicht einmal ignoriert.Empire2

Um das einseitig schöne, erfreuliche (Schein-) Bild zu vervollständigen, ist die Performance eingebettet in die bezaubernde und fremdartig faszinierende Musik, die ein zwölfköpfiges Gamelan-Orchester, GamelancNyai Rara Saraswati der KUG Graz, unter der Leitung von Sarah Weiss vorträgt. 

Empire3Diese insgesamt feinnervige, verbal-visuell-musikalische Komposition Winklers ist gleichermaßen wohltuend mitreißend wie erkenntnisreich bedrückend und lässt nach dem Ende ein lange mit dem schließlich anhaltenden Applaus zögerndes, weil sehr berührtes, ja betroffenes Publikum zurück. 

Im Taumel erkämpfter weiblicher Selbstfindung

Einen tosenden Schlussapplaus gab es hingegen unmittelbar nach dem Ende von „Once upon a Time in the Flames: Our Firebird Ballet“, einem Konzept und einer Regiearbeit so wie Choreografie von Marta Navaridas. Der Applaus mag für so manche (nicht so sehr für so manchen …!) vor allem auch dafür gestanden haben, am ekstatischen Abschlusstanz und -Reigen nicht in persona auf der Bühne mitzumachen; in diesem Taumel der erkämpften weiblichen Selbstfindung und uneingeschränkten, also grenzenlosen Freiheit der Frau. Firebord1

Ein- und Begrenzung durch das Geborenwerden als Frau wird in einer Art Vorspiel ohne Handlung allein durch ein imposantes Bühnenbild (Georg Klüver-Pfandtner), einem angedeuteten weiblichen Geschlechtsmerkmal in einer (Tropfstein-) Höhle in der Höhle (Dom im Berg) des Aufführungsortes, jedem im randvollen Zuschauerraum gemächlich und (etwas zu) deutlich bewusst gemacht. Mit bedachter Eindringlichkeit erobern sich die sechs immer wieder beeindruckenden Performerinnen – Veza Fernández, Stina Fors, Lau Lukkarila, Marta Navaridas, Maja Osojnik, Denise Palmieri – ihre vorerst kleine, eingeschränkte Welt, ihr Vorbehalt beladenes Miteinander. Immer deutlicher aber wird die latent unterdrückte Frauenpower kraftvoll spürbar und im kreativen Spiel mit Strumpfhosen, einem Objekt der Weiblichkeit, treffend visualisiert. 

Firebord2Ein bedingungsloses Ankämpfen und Niederreißen patriarchaler Ordnung zur Musik von Igor Stravinsky - beispielsweise anhand von kleinen Ballett-Zitaten und ihrem Herunterbrechen - gelingt hingegen nicht ganz so überzeugend und radikal wie wünschenswert. Die kurzweilige. teilweise mit Galgenhumor erzählten persönlichen Erinnerungen männlich dominierter, hierarchischer Kindheitserfahrungen in der auf der Bühne zelebrierten „Pause“ leiten den insgesamt mitreißenderen zweiten Teil endgültiger Loslösung von gesellschaftlichen Vorgaben ein und enden fulminant in der beschriebenen Schlussszene 

Steirischer Herbst 2024: EMPIRE: Rooting for the Anti-Hero“ am 26. September im Theater am Lend, „Once upon a Time in the Flames: Our Firebird Ballet“ am 28.9.2024 im Dom im Berg