Sam Riley spielt John Cranko. Schon das allein auf der großen Leinwand zu erleben ist ein Muss. Ein Besetzungscoup, der Langs biografischem Tanzfilm zusätzliches Einfühlungsvermögen verleiht. Vom internationalen Durchbruch der schwäbischen Kompanie erzählen außerdem schauspielernd und tanzend heutige erste Solistinnen und Solisten des Stuttgarter Balletts.
Für die Ballettwelt bedeutet der Choreograf John Cranko das, was Luchino Visconti als Regisseur für den Film ist: ein epochales Talent, komplexe Geschichten zu erzählen – Cranko mittels klarer, dramatisch stringenter Strukturen und einer bis in spielerische Details nuancierten, fließenden Tanzsprache. Völlig untypisch fürs bundesdeutsche Nachkriegsballett wollte der gebürtige, in London künstlerisch sozialisierte Südafrikaner vor allem aber „Menschen“ mit ihren Stärken und Schwächen auf der Bühne sehen. Nicht nur in dieser Hinsicht verlangt Cranko den Interpreten seiner Werke bis heute immens viel ab. Wahrheit vor Schönheit sozusagen – wobei das Wahre bei ihm durchaus schön und auch mal abstrakt sein kann und darf. Neben raffinierten Ensembleszenen und kunstvollen, seine Figuren perfekt charakterisierenden Solos ist Crankos gesamtes Schaffen von mal ergreifenden, mal irrwitzig komischen Pas de deux geprägt. So gelang es ihm, die zuvor nur als „Winter-Bayreuth“ Wieland Wagners bekannte Stuttgarter Oper in den 1960er und frühen 1970er Jahren zum Tanz-Mekka mit bald auch internationalen Tournee-Erfolgen zu machen.
Ein Biopic, das die komplexe Fülle dieser ästhetischen Aspekte visualisieren oder ihnen gar gerecht werden soll, scheint von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Naheliegender war es da wohl für Joachim A. Lang (Drehbuch & Regie), Crankos oftmals selbstzerstörerische Charakterzüge und die schreckliche Einsamkeit des künstlerischen Visionärs in Szenen herauszuarbeiten, die an Originalschauplätzen gedreht wurden – beispielsweise in dem Kavaliershäuschen bei Schloss Solitude, das der kettenrauchende, zu viel Alkohol und Tabletten konsumierende Cranko zusammen mit seinem erst kürzlich verstorbenen Sekretär, Freund und Erben Dieter Graefe sowie dem Tänzer und späteren Stuttgarter Ballettintendanten Reid Anderson einige Jahre lang bis zu seinem Tod bewohnt hat.
Langs „Cranko“ schildert eindrücklich die Tragödie der persönlichen Vereinsamung eines leidenschaftlich-kompromisslosen Choreografen – paradoxerweise inmitten einer selbst geschaffenen und seine Kreativität inspirierenden Ensemble-Familie. Dabei werden Kindheit und Jugend nur angerissen – ebenso wie die ihm als Homosexuellem in London gestellte „Falle“, die zu Crankos Emigration nach Stuttgart führt. Dort sorgen seine Eigenheiten und im Film schnell wechselnden Lover für gelegentliche Heiterkeit, während viele andere wichtige Zeitgenossen kaum Erwähnung finden. Auch die Auswahl der in Ausschnitten präsentierten Cranko-Stücke – „Romeo und Julia“, „Onegin“, „Initialen R.B.M.E“ und sein progressives Spätwerk „Spuren“, in dem totalitäre Regime angeprangert werden – ist anfechtbar. Ein Schwenk auf Crankos Talent für Komik, beispielhaft überliefert in „Der Widerspenstigen Zähmung“, fehlt. Für Kenner kann hier leicht der Eindruck von einem Abarbeiten des gerade Passenden beziehungsweise Notwendigen entstehen, das zudem in sequenzhaften Zeitsprüngen vor und zurück erfolgt.
Was Langs durchaus eindrückliches Filmporträt über eine südwestdeutsche Lokalstory – bis in die Dialoge hinein stark inspiriert von Thomas Aders’ biografischem Cranko-Roman „SeelenTanz” – hinauswachsen lässt und auch für Ballett-Greenhorns sehenswert macht, sind zwei besondere Glücksfälle: Hauptdarsteller Sam Riley füllt – inklusive britischen Akzents charmant oder gemein böse – alle charakterlichen Facetten Crankos voll aus und bringt „den Boss“ (Hanns Zischler als Intendant Walter Erich Schäfer) wiederholt an den Rand der Verzweiflung. Zudem schlüpfen derzeitige Mitglieder der Stuttgarter Ballettkompanie tanzend, aber auch schauspielernd in die Haut ihrer Kollegen der Cranko-Zeit – darunter die Ersten Solisten Elisa Badenes (Marcia Haydee), Jason Reilly (Ray Barra), Martí Paixà (Richard Cragun), Rocio Aleman (Birgit Keil), Henrik Erikson (Egon Madsen) und last not least Friedemann Vogel als legendärer Onegin-Interpret Heinz Clauss. Mehr tänzerische Authentizität in einem Film über John Cranko und dessen choreografisches Genie geht kaum.
Am Ende, in einer emotional bewegenden Epilog-Szene lässt Lang Realität und Fiktionales fusionieren: An Crankos Grab auf dem kleinen Solitude-Friedhof erweisen alle noch lebenden Zeitzeugen, zu denen auch der Bühnenbildner und Regisseur Jürgen Rose zählt, mit ihren filmischen Alter Egos gegenwärtiger Schauspieler und Tänzer paarweise ihre Reverenz. Dass im Hintergrund sogar hierzu noch getanzt werden muss, mag des Guten ein wenig zu viel sein. Dafür wird leider nur in einem Nebensatz auf Crankos Doppelfunktion als Ballettdirektor an der Bayerischen Staatsoper von 1968 bis 1970 verwiesen. Insbesondere seine abendfüllenden Handlungsballette „Romeo und Julia”, „Onegin“ und „Der Widerspenstigen Zähmung“ konnte er so in beiden Städten verankern. Bis heute prägen sie außerdem das Repertoire vieler großer Kompanien weltweit.
„Cranko“, Kinostart in Deutschland war am 3.10.2024. Österreich-Premiere am 12. Oktober im Filmkasino Wien, zur Zeit keine weiteren Termine geplant.