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SorourDarabi1Scheherazade kämpfte mit dem Erzählen von Geschichten um ihr Überleben. Sie zögerte Nacht für Nacht mit einer neuen Geschichte ihren eigenen Tod hinaus. Der iranisch-französische Künstler Sorour Darabi beschreibt in seinen „Mille et Une Nuits“ - bereits in „From the Throat to the Dawn“ arbeitete er mit diesem Sujet - die er hier als Österreichische Erstaufführung zeigte, seinen Kampf ums Überleben. Als Queerer, Mensch und Künstler. Und das mit einer Sinnlichkeit wie aus einer anderen Welt.

Drei riesige Eisblöcke schweben über dem Bodennebel, auf Brusthöhe von der Decke hängend, zwei von ihnen mit langen Haaren verbunden. Hier schon, noch ehe etwas passiert, eine erste Anspielung auf die jüngere Geschichte des Irans. Frauen, die um ihre Selbstbestimmung kämpften, schnitten sich ihre langen Haare ab als Protest gegen ihre Unterdrückung und Bevormundung. Kleinere Eisklumpen liegen auf dem Boden verteilt. Es ist sehr kalt und fest geworden in dem einst so blühenden Land.

Ein Klangteppich schwillt langsam an. Die Sound-Designer und Komponisten Pablo Altar, er spielt live den Synthesizer und bedient die Live-Elektronik, und Florian Le Prisé (Live-Gitarre) arbeiteten nach dem Prinzip „keet it simple“. Das Ergebnis sind um so wirkungsvollere Sounds und Klänge. Gemeinsam mit Ange Halliwell an der Harfe, alle drei agieren vom Bühnen-Rand aus, begleiten sie mit atmosphärischen, gefühlvollen Sounds die Geschichte. Anfangs werden sie zudem von der vornehmlich performativ und gesanglich tätigen Li-Yun-Hu per Querflöte unterstützt.SorourDarabi2

Das Lichtdesign von Shaly Lopez macht aus der Halle G eine mystische Landschaft mit Abend- und Nachtstimmungen, die vom warmen Licht einer späten Dämmerung bis zum kalten Strahlen des Mondes, vom diffusen Restleuchten einer untergegangenen Welt bis zur Inszenierung einzelner AkteurInnen reicht. Und es fährt auch noch den Himmel hernieder auf die eh schon drückende Enge hier unten. Das vieldeutige Bühnenbild, das Alicia Zaton nach einer Idee von Sorour Darabi gestaltete, lässt riesige Klumpen aus Eis wie Edelsteine leuchten und ebenso frösteln beim Anblick einer erfrorenen Kultur. Die Gay-Szene grüßt mit gesäßlosen Hosen, freien Oberkörpern und hinten offener Schürze (Kostüme: Anousha Mohtashami). 

Eine lange, ereignisreiche Nacht ist es, durch die uns die acht in diesen zwei Stunden führen. Auf dem Boden um die Bühne herum sitzend, die zweite Reihe muss sich strecken, um die vielen bodennahen Aktivitäten wenigstens einigermaßen beobachten zu können, tauchen wir ein in eine dunkle, mystische und doch reale Welt, die mit vielschichtiger Poesie vor allem die emotionalen Rezeptoren des Publikums adressiert.

Spectacle: MILLE ET UNE NUITS ,Chorégraphie, conception, textes et direction artistique : Sorour Darabi,Performeurs, chanteur, acteurs et musiciens en live : Aimilios Arapoglou, Li-Yun Hu, Felipe Faria, Lara Chanel, Sorour Darabi, Pablo Altar, Florian Le Prisé et Ange Halliwell,Composition musicale : Pablo Altar, Florian Le Prisé,Création lumière : Shaly Lopez, Dani Paiva de Miranda,Scénographie : Alicia Zaton,Costumes : Anousha Mohtashami,Dans le cadre du Festival Montpellier Danse,Lieu: Studio Bagouet - Agora, Montpellier, le 30/06/2024Geisterhafte, unscharfe Wesen der Nacht kriechen, kauern, winden sich. Iranischen Tanz vermeint man zu sehen. Darabi lässt seinen Körper in Wellen wogen, wedeln und sich wiegen wie ein Kornfeld oder Schilf im Wind. Wie Traum-Szenen mutet manches an. Und auch: Das eigene So-Sein ausleben, ungemein sinnliche, zärtliche, gleichgeschlechtliche Erotik unter Männern und Frauen. Dann aber: Darabi begattet einen Eisblock, Aimilios Arapoglou zappelt wie ein Fisch an Land, seinem Element entrissen, totgeweiht. Allein diese Bilder sind fürchterliche (An-) Klage.

Sie leben Fragilität, Sinnlichkeit, Sehnsucht, Melancholie, Gemeinschaft und Einsamkeit, in allem ehrlich. Wir erleben die Emotionalität der Trans-Stimme, hören Lieder voller Traurigkeit von Sorour Darabi selbst (Gedichte von Darabi werden als Anhang zum Programmzettel mitgeliefert) und einem dort bekannten iranischen Dichter. Körper, Stimmen, Klang, unendlich poetisch und sensitiv.

Alles ist so fragil, zerfällt, endet in Zerstörung. Die nach außen gerichtete Gewalt ist ein Spiegel für einen durch Ablehnung, Selbstzweifel und Schuldgefühle hervorgerufenen Seelenzustand. Die Qualen brechen sich frei, die Angst wird Aggression, die Verwüstung der Bühne gleicht dem inneren Chaos. Es ist ein Horror, dessen Wahn zutiefst ergreift. Am Ende singt Darabi einer aufgehenden Sonne entgegen. Sein Song und sein Singen, voller Qualen, wollen Hoffnung.Spectacle: MILLE ET UNE NUITS ,Chorégraphie, conception, textes et direction artistique : Sorour Darabi,Performeurs, chanteur, acteurs et musiciens en live : Aimilios Arapoglou, Li-Yun Hu, Felipe Faria, Lara Chanel, Sorour Darabi, Pablo Altar, Florian Le Prisé et Ange Halliwell,Composition musicale : Pablo Altar, Florian Le Prisé,Création lumière : Shaly Lopez, Dani Paiva de Miranda,Scénographie : Alicia Zaton,Costumes : Anousha Mohtashami,Dans le cadre du Festival Montpellier Danse,Lieu: Studio Bagouet - Agora, Montpellier, le 30/06/2024

Die Poesie in diesem Stück überwältigt. Sie ist das Fortleben einer (der persisch-iranischen) Kultur, die seit Jahrtausenden die Sprache der Bilder (für etwas) als wesentliches Element des verbalen und nonverbalen Ausdruckes kultiviert. Kunst ist Bild. Sie formuliert metaphorisch und auf mehreren Ebenen, was war, ist und was sein kann oder wird. Diese Arbeit, die bislang opulenteste von Sorour Darabi, zeigt mit ihrer Komplexität, was Kunst sein kann. Innere und gesellschaftspolitische Notwendigkeiten, die Darabi in dieses Stück trieben, werden unmittelbar spürbar.

Spectacle: MILLE ET UNE NUITS ,Chorégraphie, conception, textes et direction artistique : Sorour Darabi,Performeurs, chanteur, acteurs et musiciens en live : Aimilios Arapoglou, Li-Yun Hu, Felipe Faria, Lara Chanel, Sorour Darabi, Pablo Altar, Florian Le Prisé et Ange Halliwell,Composition musicale : Pablo Altar, Florian Le Prisé,Création lumière : Shaly Lopez, Dani Paiva de Miranda,Scénographie : Alicia Zaton,Costumes : Anousha Mohtashami,Dans le cadre du Festival Montpellier Danse,Lieu: Studio Bagouet - Agora, Montpellier, le 30/06/2024Scheherazade will weiter leben und erfindet dafür immer neue Geschichten. Darabi, er selbst verkörpert gleichnishaft eine Vielzahl von unterdrückten, diskriminierten, bedrohten und gefährdeten Menschen, stellt sich aus mit seiner Verletzlichkeit, der Zartheit seiner Sinne und seines Körpers, mit seiner Empfindsamkeit und seiner Klugheit, und erzählt uns von der Welt, in der wir leben. Keine neuen Geschichten. Nur die Wahrheit. Damit kämpft er beispielhaft für viele um sein psychisches und mithin auch physisches Überleben. Welche tatsächliche Dringlichkeit!

2016 verließ Sorour Darabi den Iran, wo er Kunst studierte und auch der Untergrundvereinigung ICCD angehörte. Als queere Persönlichkeit und als Künstler gab es keine Perspektiven für ihn in seinem Heimatland. In Frankreich, Paris, fand er eine neue künstlerische und menschliche Heimat. Seine Arbeiten werden seit dem dort und europaweit gezeigt. 

Was fest installierte politische Systeme und tief in Gesellschaften und Psychen eingegrabene Werte- und Glaubenssysteme für ein Beharrungsvermögen besitzen, weiß Darabi. „Doch alles, was entsteht, ist wert, dass es zu Grunde geht.“ Das Eis auf der Bühne schmilzt. Sehr langsam, aber es tropft unaufhörlich. Und bedeckt den Boden bald mit einem flachen Meer aus Tränen. Die Hoffnung in diesem Bild und seine Tragik gehen unter die Haut. 

Die vielen per Musik, Tanz, Kostümen, Sprache, Lyrik, Gesang, Licht, und Objekten miteinander verschränkten Ebenen erzeugen eine Komplexität, die im nebligen Dunkel des Settings vieles sichtbar macht. Individuelle, soziale und gesellschaftliche Aspekte wie Selbstbehauptung, Selbstachtung und -Akzeptanz, Wahrnehmung, Anerkennung, Integration, doch auch Ächtung und Ablehnung, Ausgrenzung, strukturelle und systematische Diskriminierung Queerer. Die spirituelle Ebene bringt die Poesie in dieses Stück. Das Verfestigte transformiert sich in ein Flüssiges, Gestaltloses, auch Formbares. Aus dem Einen wird das Alles, aus Diktatur wird Demokratie.

Darabi überwindet die Polarität, gestärkt durch die Erfahrung der Diaspora. Orient und Okzident, binäre Geschlechterdefinitionen, gut und böse, fest und flüssig, Belebtes und Unbelebtes, (menschliche) Natur und Kultur vereint er zu einem sinnlich erfahrbaren Ganzen. Er verbindet orientalische Mythologie und orientalische Realität. Beide sind geprägt von starken Menschen in brutaler Wirklichkeit. Die Selbstbehauptung wird zum Lebenszweck. Er bricht mit heteronormativen Gender-Stereotypen und postuliert eine noch ins Verborgene der Nacht verbannte queer-affine und -tolerante Welt. Er schreibt den Mythos um. Weil es notwendig ist.

Sorour Darabi mit „Mille et Une Nuits“ am 08.11.2024 im Tanzquartier Wien, MQ Halle G.

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