Sie lassen es gehörig krachen. Mit dem Stroboskop-Licht dazu, das das Publikum beim Betreten der Halle in eine temporäre Orientierungslosigkeit schickt, fühlt man sich wie in einem Kreißsaal für Sterngeburten. Schnell, vor allem nachhaltiger als wir finden die sechs musizierenden PerformerInnen oder performenden MusikerInnen sich zurecht. Und zueinander. Was sie entstehen lassen, ist Kultur in vielerlei Hinsicht und bestem Sinne.
Die sechs Mitglieder des Kollektivs „andotherstage“ Isabella Forciniti (Tanz, Modular Synths, Electronics), Alfredo Ovalles (Tanz , Keyboards, Orgel, E-Gitarre), David Christopher Panzl (Tanz, Schlagzeug), Jorge Sánchez-Chiong (Turntables), Samuel Toro Pérez (Tanz, E-Gitarre) und Brigitte Wilfing (Choreografie, Tanz, Stimme) bewegen sich und musizieren in einem Setting und in Kostümen von Otto Krause.
Die Instrumente hängen von der Decke, unter ihnen Luftbetten als Podium, oder sie stehen auf Pulten. Ihre spacigen Outfits erinnern an die frühen Techno-Zeiten. Neon-Applikationen, Plateau-Stiefel, einen verhüllenden Kapuzen-Mantel, nackte Schenkel und überbreite Schulter-Platten sehen wir. Victor Duran fährt das Licht. Und Gott sei Dank wird’s nach dem „Prolog“ ruhiger für die Optik. Und das hat seinen Sinn.
Der Sound am Anfang ist chaotisch. Die instrumentalen Einwürfe scheinen keinen Bezug zu haben zum rasanten Basis-Rhythmus. Hauptsache laut. Es kracht und donnert. Das Stroboskop raubt einem den Verstand. Mit ihrem ekstatischen Laufen, Springen, Hüpfen und Schütteln dazu machen sie aus dieser Techno-Höhle eine Techno-Hölle. Der Sound ist komplex und rhythmisch. Kurze Stille. Ein erstes Mal. Weitere sehr kurze Unterbrechungen folgen. Lichtstimmung, Setup und musikalische Kooperationen ändern sich damit.
Jede(r) der sechs ist ein(e) MeisterIn seines/ihres Faches und bekommt seine/ihre Bühne. Verschieden instrumentierte Interaktionen, immer performativ begleitet, einmal auch mit einem synchronen Gruppen-Tanz, lösen sich ab. Neue Paarungen, neues Spiel, neue Dimension des Miteinander. Stefan Ehgartner (Sounddesign) stimmt die instrumentalen und vokalen Beiträge fein aufeinander ab. Es gibt keinen Wettstreit um den Vordergrund, keine Dominanz und keinen akustisch Unterlegenen. Und was diese immer wieder neu arrangierten Kooperationen klanglich hervorbringen, ist beeindruckend.
Sie kultivieren das Zuhören, das aufeinander reagieren, die feine Antenne für den Anderen, aber auch sich selbst. Wer sich durch das Dröhnen gräbt, erlebt Feinsinn und ausgeprägtes Gespür für Harmonie in der Dissonanz. Die Dramaturgie ist fesselnd und hochdynamisch. Das Wilde, Ungeordnete und doch Koexistierende führen sie in Repräsentanzen für Aufmerksamkeit, Wachsamkeit und Kultur.
Aus dem Chaos erschaffen sie Struktur. Aus dem Nebeneinander generieren sie ein Miteinander. Sie zerlegen jegliche kulturelle Prägung und führen sie mit musikalischer Gewalt ad absurdum. Und das, um Neues entstehen zu lassen, um Freiheit zu ermöglichen, um das eine, alles Verbindende herauszuarbeiten und erlebbar zu machen.
Als Keyboarder Alfredo Ovalles und Gitarrist Samuel Toro Pérez sich auf zwei Pulten nebeneinander zur akustischen Vereinigung treffen, müssen sie mit Händen und Füßen gegen den Widerstand von hinter ihnen an der Wand fixierten Latex-Bändern arbeiten. Aus der Solidität tradierter Aufführungs-Praktiken, Kompositionsweisen und Rezeptionsgewohnheiten auszubrechen ist harte, dennoch freudvolle Arbeit. Sie dehnen diese Bindungen bis an die Grenzen des ihnen Möglichen. Und bleiben doch, irgendwie, verbunden mit dem, aus dem sie kamen.
Aus den Bestandteilen einer dekonstruierten (musikalisch-künstlerischen) Welt setzen sie eine neue zusammen. Vorsichtig noch. Teile interagieren miteinander. Die Vision jedoch wird klar: Wie im Kleinen, so im Großen. Sie kreieren die musikalisch-performative Utopie einer Welt voller Gewahrsamkeit, Toleranz, Akzeptanz und Empathie. Es ist wie die Erschaffung eines klanglich-tänzerischen Universums. Aus der Unordnung nach dem geräuschvoll-performativen Urknall formen sich Details, die sie sukzessiv schärfen.
Das Format einer „Choreografische Komposition“, das sie für diese inzwischen vierte Arbeit für Wien Modern wählten, ermöglicht die Erzählung einer Geschichte. Der vom Tanz als Werkzeug zur Erforschung von Alternativen zu vereinnahmten Praxen der Präsentation und Wahrnehmung, der von der Konstitution von Gemeinschaften, von den Nährwerten tänzerisch-performativer und musikalischer Interventionen füreinander und in ihren wechselseitigen Bedingtheiten.
Mit „when we play“ kreieren die Choreografin und Performerin Brigitte Wilfing und der Komponist Jorge Sánchez-Chiong gemeinsam mit ihrem 2019 gegründeten transdisziplinären Ensemble "andotherstage" einen Raum, in dem Tanz, Kostüme, Musik/Sound, Text, Sprache, Licht und Bühne zu einem Bild von einer Zukunft verschmelzen, die aus dem einfühlsam-spielerischen Experiment entsteht und Wege aufzeigt in neue künstlerische Seinsweisen, ermöglicht durch die Kooperation der Sparten und Akteure. Und ausdrücklich nicht durch deren neben- oder gar gegeneinander.
Die Musik bei der Party danach war wesentlich weniger experimentierfreudig. Jorge Sánchez-Chiong legte Tanzbares auf, das Publikum nahm es dankbar an.
Brigitte Wilfing / Jorge Sánchez-Chiong / andotherstage mit "when we play" am 22. November 2024 im Kulturhaus Brotfabrik im Rahmen von Wien Modern.