Familie als Märchenvision. Karl Alfred Schreiner leitet seit der Spielzeit 2012/2013 das Ballett des Staatstheaters am Gärtnerplatz in München. Als erste Neukreation im wiedereröffneten Stammhaus bringt er passend zur Weihnachtszeit seine familiär-zeitgenössische Version des Tschaikowsky-Klassikers „Der Nussknacker“ auf die Bühne.
Von Gärtnerplatz-Intendant Josef E. Köpplinger als neuer Tanzchef an die Isar gebracht, starteten Schreiner und sein 20-köpfiges Ensemble seinerzeit in den sanierungsbedingten Ensuite-Betrieb mit Tschaikowskys „Dornröschen“. Eine bekannte Story, die der gebürtige Salzburger und ehemalige Halbsolist an der Wiener Staatsoper gut in moderne Bewegungsformen gießen und der er neue Akzente abgewinnen konnte. Die Idee zu diesem Einstandswerk war zwar nicht hyper-originell. Schon Schreiners Vorgänger Günter Pick, Ivan Sertiċ und Hans Henning Paar hatten sich damit in München als Direktoren und Choreografen in Personalunion vorgestellt. Doch der stets zugkräftige Handlungsklassiker eignete sich perfekt für den ersten Kontakt zum Publikum und als Sympathienfänger.
Erleichtert stellt Schreiner fest: „Natürlich ist es – vor allem logistisch-praktisch gesehen – jetzt viel einfacher und besser, seit wir nach fünf Jahren ständiger Wanderschaft endlich im eigenen Haus arbeiten können“. Im Repertoirealltag ist seine wendige, von Tanzlust getriebene Kompanie neben ihren Eigenproduktionen auch kräftig in Operetten und Musicals involviert. Zur großen Eröffnungsgala am 14. und 15. Oktober jedoch durfte das Ballett des Mehrspartenhauses nur eine einzige Nummer präsentieren. Diese Polka allerdings war entsprechend gegen den Strich gebürstet und mit Tempo, Elan und wilden Sprungkaskaden gewürzt.
Vesna Mlakar: Herr Schreiner, Ihre unterhaltsame „Dornröschen“-Bearbeitung von 2012 war farbenfroh und hatte einen frechen Drive. Lag es da auf der Hand, zum Ballett-Einstand im frisch renovierten Haus Tschaikowskys „Nussknacker“ zu wählen?
Karl Alfred Schreiner: Es gibt ein paar Ballette, bei denen man als Choreograf einfach Lust hat, sie anders zu machen. Von Tschaikowskys großen Tanzwerken liebe ich besonders die beiden von Ihnen genannten, weil sie sich an Märchenstoffe anlehnen.
Den „Nussknacker“ für unsere frühere Ersatzpielstätte, die Reithalle, zu kreieren, wäre aufgrund des Bühnenbildes schwierig gewesen. Und nun endlich zurück am Gärtnerplatz wollte ich die Saison mit einem bekannten Abendfüller eröffnen.
Auch bei Tschaikowsky kam „Nussknacker“ nach „Dornröschen“. Grundlage sollte ursprünglich E. T. A. Hoffmanns fantastische Erzählung „Der Nussknacker und der Mäusekönig“ von 1816 sein. Stattdessen floss die stark abgeschwächte französische Übersetzung von Alexandre Dumas père in die Arbeit ein. Wie düster geht es Ihrer Version zu?
Tschaikowsky hatte den Ruf, ein „ewiges Kind“ zu sein, interessierte sich für Spielzeug und Feenwelten. Mich hat die tolle Musik fasziniert, mit ihren eingängigen Walzern und Melodien. Natürlich kann man die Geschichte heutzutage auch im Gulag spielen lassen. Ich persönlich habe aber großen Respekt vor dem Werk. Und wir sind auch nicht der Ort und das Haus, wo man Stücke präsentiert, um sie komplett von Innen nach Außen zu stülpen. Besonders im Hinblick auf die Jüngeren, die noch nie einen „Nussknacker“ gesehen haben, möchte ich die Grundgeschichte beibehalten. Nichtsdestoweniger habe ich das Anliegen, meine eigene Version zu erzählen.
Worum geht es dann bei Ihnen?
Ich möchte eine Geschichte erzählen, die sich von Anfang bis Ende durchzieht. Deshalb gibt es bei mir zwei wichtige handelnde Personen: zum einen den Patenonkel Droßelmeier, der in meiner Version ein sehr lebensfroher, positiver, liebender Mensch ist. Für ihn steht der Blumenwalzer. Der Gegenpart ist aus enttäuschter Jungendliebe die Mutter. Ihre Person zeichnet Strenge aus. Sie will ihre Tochter Klara unbedingt davor behüten, sich in einen jungen Mann zu verlieben und ein gebrochenes Herz zu bekommen.
Im ersten Teil werden die Figuren wie in einer klassischen Version vorgestellt, der Zuschauer begegnet ihnen aber auch nach der Pause wieder. Diesmal allerdings aus Klaras Perspektive. Das ist der Clou, mit dem wir die Brücke über beide Akte schlagen. Bei mir betritt Klara in ihrem Traum die harmonische Welt von Fritz und seinem Vater Droßelmeier, Klaras Patenonkel. Und wie kann es anders laufen, als dass sich Fritz, Droßelmeiers Sohn, in Klara verliebt! Störfaktor sind nicht die Ratten, sondern Klaras eigene Mutter.
Problemfigur ist also nicht der Mäusekönig, sondern die Mutter?
Ja, denn sie hat ein Problem mit dem Älterwerden. Sie steht in Konkurrenz zu ihrer Tochter. Die Mutter steht für Herzenskälte, das Geometrische – was wir auch szenisch umsetzen –, also die eiskalte Welt der Schneekönigin. Zu Beginn des Schneeflockenwalzers, dem Moment, wo Klara und der Prinz bzw. Fritz versuchen zusammenzukommen, tritt sie auf und friert mit einer Handbewegung die ganze Welt ein.
Bringen Sie den Nussknacker als Puppe oder Symbol ins Spiel?
Nun, ich finde schwierig zu erzählen, dass sich ein junges Mädchen in eine Holzpuppe verliebt. Diese Zeiten sind, denke ich, vorbei. Aber auch in meinem Stück ist Droßelmeier ein seltsamer Typ, der kuriose Dinge tut. Und wie so oft im realen Leben, bekommen Männer, die Abstruses tun, tolle Frauen ab. Letztlich finden nicht nur die jungen Klara und Fritz, sondern auch ihre Eltern – also Droßelmeier und die Schneekönigin – zueinander. Am Ende unseres Festes der Liebe (Weihnachten!) erlebt das Publikum das Doppel-Happy-End einer Patchworkfamilie.
Bei „Nussknacker“ arbeiten sie erstmals mit Kiril Stankov zusammen, der die musikalische Leitung und damit sein erstes Ballettdirigat überhaupt übernehmen wird.
Livemusik zu Ballett-Produktionen ist mir wirklich ein großes Anliegen. Wir haben uns sofort gut verstanden und eine gemeinsame Sprache gefunden, was Inhalte, Tempi und Phrasierungen angeht. Kiril kam dann zu sehr vielen Proben und hatte sofort auch eine persönliche Leidenschaft für die Mitentwicklung des Stücks.
"Der Nussknacker", 23. (Premiere), 25., 26. November, 3., 9., 23., 25. Dezember im Staatstheater am Gärtnerplatz