Hoghe – nach einer Vielzahl von Auszeichnungen zuletzt vergangenen Herbst mit dem Deutschen Tanzpreis geehrt – verstarb in der Nacht auf den 14. Mai in seiner Düsseldorfer Wohnung. Ein leiser Abschied des gebürtigen Wuppertalers – nur zwei Tage nach seinem 72. Geburtstag. Ohne Chance, die pandemiebedingt verschobenen Projekte nun jemals nachzuholen.
Die letzte seiner rund 30 choreografischen Arbeiten „Traces“ muss unvollendet bleiben. Das beim zur Zeit laufenden Festival Dance München als Ersatz für die ursprünglich geplante Produktion „Canzone per Ornella“ in Verknüpfung mit Live-Gesprächen vorgesehene Filmprogramm über das reiche und komplexe Œuvre des Künstlers schrumpfte in sich zusammen – vergleichbar dem markant buckligen, in seiner zerbrechlichen Gestalt oft provokant-selbstverständlich „in den Kampf geworfenen Körper“.
Hoghes Arte-Porträt „Die Jugend im Kopf“ aus dem Jahr 2016 über Marie-Thérèse Allier – sie verankerte 1983 dank ihrer Ménagerie de Verres die Tanzmoderne in Paris – glich bereits einem Nachruf auf ihn. Auf einen, der sich selbst zum Auftakt in knappen offenen Sätzen unverhohlen gradlinig auf den Punkt bringt: „Ich kann gut zuhören, aber ich kann nicht singen und auch kein Instrument spielen“ / „Ich beobachte Menschen und versuche, sie nicht gleich zu beurteilen.“ / „Ich versuche nicht, nach den Erwartungen anderer zu leben“ / „Ich will mir treu bleiben. Ich will nicht dass Menschen wegen ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres Körpers ausgegrenzt und verfolgt werden.“
Spät – erst 1994 – kreierte Hoghe sein erstes eigenes Solo „Meinwärts“. Der Beginn einer persönlichen Bühnenkarriere, die stets ein Stellungbeziehen auszeichnete. Von da an war jeder Titel Programm und in Hoghes Choreografien schrieben sich Statements anhand der darin auftretenden Körper und unter Verwendung bisweilen wunderlicher, manchmal abstruser Requisiten quasi von selbst in den Raum. Egal, ob darin gesellschaftspolitische Themen, Vergangenheit und Gegenwart oder Schönheit verhandelt wurden, ob es um Erinnerungen, Beziehungen, Gefühle, Ikonen, legendäre Persönlichkeiten oder Schicksale ging.
Hoghe machte Tanztheater mit der rituellen Kraft eines Zeremonienmeisters. Niemals überfrachtete er seine Werke, konterkartiere Gewalt lieber mit Zärtlichkeit und trumpfte mit streng formaler Reduziertheit auf. Die ureigene Macht seiner Bilder war Entschleunigung – manchmal zauberhaft, bisweilen anstrengend bis hin zu starkem Pathos. Hoghe blieb in vieler Hinsicht ein Außenseiter. Sein Blick auf die Welt war bis zuletzt herzlich forsch und kritisch, dabei bisweilen auch leicht ironisch. Das Verschwinden seiner kreativen Stimme – in Frankreich früher anerkannt und verehrt als bei uns – reißt ein tiefes, per se kaum durch anders besetzte Revivals wieder zu füllendes Loch in die internationale Tanzlandschaft.
PS: In Wien war Raimund Hoghe wiederholt bei Impulstanz zu Gast: erstmals 1997 mit „Meinwärts“. Nach zahlreichen eindringlichen Produktionen in den Folgejahren zuletzt mit „La Valse“ und „Lettere amoros, 1999–2017“.