Rudolf Nurejew war der erste sowjetische Künstler, der sich in den Westen absetzte. Abgesehen vom künstlerischen Impakt, den er mit diesem Schritt für das Ballett setzte, war er von geopolitischer Brisanz und symbolisierte einen Sieg des Westens im Kalten Krieg. Dass Nurejew mit seiner Flucht ein großes Risiko einging und alles auf eine Karte setzte, macht die Arte-Dokumentation „Rudolf Nurejew: Der Sprung in die Freiheit“ deutlich, die am 31. August erstmals ausgestrahlt wird.
1961 – der kalte Krieg ist auf seinem Höhepunkt. Die Berliner Mauer wird gebaut, US-Streitkräfte landen in der Schweinebucht in Kuba. Die Sowjetunion baut ihre Vormachtstellung in der Raumfahrt aus und schickt den Kosmonauten Juri Gagarin als ersten Menschen ins All. Auch kulturell zeigt die Sowjetunion Stärke, die sie mit einer damals seltenen Tournee des Kirow-Balletts in den Westen demonstrieren will. Das Überlaufen Rudolf Nurejews in Paris ist historisch zwar nur eine Fußnote in diesem ereignisreichen Jahr. Doch der charismatische, russische Ausnahmetänzer schlug damit medial hohe Wellen. Und er trat an, das Ballett des 20. Jahrhunderts nachhaltig zu verändern.
In seiner Dokumentation zeichnet der Kultursender ARTE (in einer Koproduktion mit BBC und ZDF) die Ereignisse, die Rudolf Nurejews (1938-1993) Sprung in die Freiheit vorausgingen, nach. Gezeigt wird ein überaus begabter und ehrgeiziger junger „Rudik“, der in der Kirow-Gruppe als unberechenbar und anarchisch galt. In nachgestellten Szenen, in Interviews mit Kollegen, Kritikern, einer Biografin und einer Fotografin entsteht das Bild eines impulsiven, hitzköpfigen jungen Mannes, der beleidigend sein konnte, wenn es nicht nach seinem Kopf ging und der gleichzeitig leicht gekränkt war. Selbst für sein höchstes Ziel, nämlich auf die Tournee nach Paris mitgenommen zu werden, setzte er keine diplomatischen Verhaltensregeln ein, sondern vertrat stur und hitzig seine Meinung. Das veranlasste den damaligen Ballettchef Konstantin Sergejew bzw. die politischen Entscheidungsträger, Nurejew nicht für die Tournee einzuplanen. Doch wie so oft, spielte der Zufall Engel und die französischen Organisatoren der Tournee bestanden auf den jungen Star. Versteht sich von selbst, dass die KGB-„Begleitpersonen“ Order hatten, sich besonders um das Enfant terrible zu kümmern.
Angekommen in Paris macht sich der 23-Jährige schnurstraks daran, westliche Freunde zu gewinnen und findet sie vor allem in dem Tänzer der Pariser Oper Pierre Lacotte und der französischen Society-Lady Clara Saint. Bereits sein erster Auftritt macht Nurejew in Paris zum Superstar und so gelingt es ihm auch immer wieder dem KGB zu entwischen. Bis es der sowjetischen Obrigkeit zu bunt wird und sie befielt, den „Volksfeind“ Nurejew sofort zurückzuschicken. Auf dem Flughafen von Le Bourget verabschiedet sich die Leningrader Truppe von seinem Star Richtung London, Nurejew sollte in eine Maschine nach Moskau gesetzt werden. Doch Lacotte und Saint bereiten eine Finte vor: Nurejew reißt sich von seinen Bewachern los und landet mit einem Grand jeté in den Armen der französischen Polizei.
Die Arte-Dokumentation unter der Regie von Richard Curson Smith empfindet diese Story als eine Art von Thriller nach – was sie auch wirklich war, denn der KGB folgte Nurejew noch Jahre danach auf Schritt und Tritt. In den kurzen Tanz- und Spielszenen werden viele Themen wie die sexuelle Orientierung, die Vergnügungslust des jungen Russen angeschnitten oder auch sein untrüglicher Instinkt, sich mit Menschen zu umgeben, die ihm nützlich sein könnten. All dies gehört ebenso wie sein außergewöhnliches Tanzen zum "Mythos Nurejew". Artem Ovcharenko, Solist des Bolschoi Balletts, verkörpert den Tanzstar mit jugendlichem Charme. Es sind aber vor allem die exklusiven Interviews mit Zeitzeugen wie den Kirow-Solisten Sergej Wikulow, Marina Wassilieva, Wadim Desnizki, Alla Osipenko, den Tanzjournalisten Laura Cappelle und René Servin, mit einem KGB-Offizier, dem Neffen des damalilgen Sicherheitschefs von Le Bourget sowie mit Pierre Lacotte und Clara Saint – die in einer Toneinspielung das erste Mal über ihre Rolle auf dem Flughafen spricht –, die den Film authentisch und spannend machen. Sie alle waren an dieser Geschichte maßgeblich beteiligt. Schön, dass sie nun noch einmal erzählt wird.
„Rudolf Nurejew: Der Sprung in die Freiheit“, 31. August 2016, 21.50h auf ARTE (Erstausstrahlung). Wiederholung am 18. September 2016 um 03.00