Eine Absage mit Ansage und die ungewisse Zukunft eines Schmuckstücks des Berliner Ballett-Repertoires: Das Staatsballett Berlin zeigt heuer seinen „Nussknacker“ nicht. Damit gehört es zu einer Minderheit unter den Tanz- und Ballettensembles dieser Welt. Immerhin gehört es damit aber auch in eine Reihe mit so bedeutenden Ensembles wie in Mailand, München, Paris, Stuttgart, Wien und Zürich, bei denen in diesem Jahr der „Nussknacker“ ebenfalls nicht auf dem Programm steht. Und doch liegt, glaubt man der veröffentlichten Meinung, der Fall in Berlin ganz anders.
Hier liest man von „Absage“, „abgesetzt“ und „aus dem Programm genommen“, von „Ersatz“ und dass „nun“ die Ballettfans enttäuscht seien. Selbst die im Weiteren wohltuend abgeklärte „Süddeutsche Zeitung“ meldet einen „jetzt“ auf Eis gelegten „Nussknacker“, „TanzNetz“ wiederholt die „Absage“ und „Die Welt“, mit grober Keule statt dem feinen Florett des Feuilletons auf Feldzug gegen die kommissarische Intendantin des Staatsballetts, bedauert „Berliner Kinder“, die „dieses Jahr“ auf den Weihnachtsklassiker „verzichten müssen“, „klammheimlich“ vorbereitet von einer „Totengräberin“ des Balletts und „aufgedeckt“ von der Zeitung „B.Z.“.
Absage mit Ansage
Doch die „B.Z.“ hatte nicht Verheimlichtes ans Licht geholt, sondern lediglich über die Gründe für den diesjährigen „Nussknacker“-Verzicht berichtet, dessen vermeintliche Absage in Wahrheit eine mit Ansage war: Seit Veröffentlichung der Spielzeitpläne im Juni ist bekannt, dass zur Adventszeit „Don Quixote“ gezeigt werden würde. Enttäuschte Hoffnungen, kurzfristige Änderungen, stornierte Tickets: Nichts dergleichen, und doch ist von „Absetzen“ und „Ersatz“ die Rede, von „jetzt“ und „nun“ und „klammheimlich“. Man sieht’s geschehen und wundert sich.
Worum es eigentlich geht, kam immerhin auch zur Sprache: Um kleine, aber hervorstechende Details in Kostüm, Maske und Choreographie des „Nussknackers“, den Vasily Medvedev und Yuri Burlaka (Choreographie), Andrei Voytenko (Bühne) und Tatiana Noginova (Kostüme) 2013 für Berlin erarbeitet haben. Ihr Vorbild war die Urfassung von 1892, und so gehören zu den „orientalischen“ und „chinesischen“ Tänzen dieses „Nussknackers“ Haremsdamen, braune Körperschminke, fantasiechinesische Kostüme, Masken und Trippelschritte. Deren Wiederbelebung erschien 2013 harmlos, heute stehen sie im Licht einer Rassismus-Debatte, die auch in den Künsten vehement geführt wird. Und manches spricht dafür, dass sich das Staatsballett Berlin in dieser Debatte angreifbar wähnt.
Staatsballett im Feuer
Im Herbst 2020 veröffentlichte das Staatsballett ein überaus selbstkritisches „Statement“, nämlich zu – wie es unumwunden hieß – „den Rassismus-Vorfällen“ in seinen Reihen. Man erinnert sich: Eine Staatsballett-Tänzerin dunkler Hautfarbe hatte angebliche diskriminierende Äußerungen einer Ballettmeisterin heller Hautfarbe ihr gegenüber beklagt. Die Folge war ein medialer Sturm weit über Berlin hinaus. Heute, nach allem, was der Öffentlichkeit mittlerweile bekannt ist und dank einer Recherche der „Berliner Zeitung“ seit kurzem auch die Sicht der beschuldigten Ballettmeisterin zu berücksichtigen erlaubt, spricht einiges dafür, dass die behaupteten diskriminierenden Äußerungen eher der Sphäre subjektiven Empfindens als dem Kreis objektiver Wahrheiten zuzuordnen sein könnten. Ob ein heute verfasstes „Statement“ des Staatsballetts wiederum von „den“ Rassismus-Fällen in der Kompanie sprechen würde, erscheint zumindest fraglich.
Im Herbst 2020 aber stand das Staatsballett im Feuer. Für das, was auch ihm widerfahren könnte, war zuvor die Staatliche Ballettschule Berlin, das andere bedeutende Institut des klassischen Tanzes in der Stadt, zu einer verstörenden Fallstudie geworden. Vorwürfe des Führungsversagens an die Adresse der Schulleitung und der Kindeswohlgefährdung und des Machtmissbrauchs durch das Lehrpersonal hatten zu einer Anti-Stimmung geführt, nicht nur - und schlimm genug - gegen Personen, sondern gegen „den“ klassischen Tanz und „die“ klassische Tanzausbildung an sich. Lange vor einer Untersuchung (geschweige denn einer Klärung) der Vorwürfe wurden angebliche Schuldige gebrandmarkt. Eine überfordert agierende Politik und ein selbst in manchen seriösen Medien verbreiteter Generalverdacht gegen alles Klassische im Tanz schufen eine geradezu toxische Gemengelage.
In diesem Klima verkündete das Staatsballett im Herbst 2020 eine Untersuchung seines Repertoires, „um überholte und diskriminierende Aufführungsweisen aufzudecken und Traditionen in neuem Licht und mit anderem Bewusstsein zu sehen und neu zu bewerten“. Auf diesen – ehrenvollen – Plan ist zurückzuführen, dass das Berliner Publikum die Adventszeit 2021 ohne „Nussknacker“ überstehen muss. Keine „Absage“ also. Und damit alles gut?
„Nussknacker“ von besonderem Rang
Der historisierende „Nussknacker“ ist eine der wenigen Produktionen mit herausragendem Alleinstellungscharakter im Repertoire des Staatsballetts Berlin. Und eine Besonderheit von internationalem Rang. Er beschert den Bühnen- und Kostümentwürfen und dem Libretto der St. Petersburger Urfassung neues Leben, spürt Geist und Zeitgeist damaligen Ballettschaffens nach. Er stellt – natürlich! – eine eklatante intellektuelle Unterforderung für ein heutiges Publikum dar (sofern es der Märchengläubigkeit entwachsen ist), ist aber auch ein seltenes, wertvolles Stück Ballett-Archäologie. Er gestattet es, mehr als eine angelesene, aus unzureichendem Bildmaterial abgeleitete Ahnung dessen zu erleben, was Usus war im Ballett Ende des 19. Jahrhunderts – als für diese Kunst Grundlagen geschaffen und verfeinert wurden, die bis heute fortwirken.
Zugleich ist dieser „Nussknacker“ ein Publikumsmagnet. Sein bonbonfarbener Prunk, seine Schönheiten und Albernheiten, sein Glitzer und Firlefanz liefern ein Schaustück erster Güte, das Zuschauer anzieht und Interesse weckt. Welch‘ eine Chance, Publikum heran und zu erziehen und „Ballett“ in positiver Weise zu einem Fokus aktueller gesellschaftlicher Fragestellungen zu machen! Denn was ließe sich anhand dieses Stücks seh- und erlebbarer Ballettgeschichte und von ihm ausgehend nicht alles vermitteln! Nicht nur Aspekte der Ballett-, Tanz- und Kunstgeschichte, sondern gerade auch Themen, die heutige Perspektiven und Debatten prägen, von historischen sozialen und politischen Verhältnissen und Entwicklungen bis hin zu Kolonialismus, Rassismus und Diskriminierung.
Vorauseilende Bußfertigkeit
Ein Feuerwerk populärer, niederschwelliger Informationen und Begleitformate ergänzte in der Historie gründende Produktionen wie diesen „Nussknacker“, stünde er in Kopenhagen, Paris oder London, New York oder San Francisco auf dem Programm. Auch in Berlin wird natürlich stets und in vielfältiger Weise „begleitet“ – doch aktuell eher nicht populär und niederschwellig. Und wenig selbstbewusst.
Hier lädt eine in verschwurbeltem Englisch (weshalb Englisch?) betitelte Gesprächsreihe („Ballet for Future?“) zu Diskussionen über „Age, Race, Religion, Ability, Class“ und „Gender“ ein. Dass das die Sprache ist, die eine Ansprache breiter Publikumskreise ermöglicht, darf bezweifelt werden. Und hier wird (im Programmbuch zu „Don Quixote“) die Spanien-Begeisterung des Musiktheaters und Balletts des 19. Jahrhunderts als „nichts anderes als die Aneignung einer fremden Kultur“ qualifiziert – so schlankweg, als sei „Kulturelle Aneignung“ nicht ein höchst umstrittener Begriff einer vor allem ideologisch geprägten Identitätsdebatte, und so selbstverständlich, als müsse das Ballett überwinden, was das Theater von alters her prägt: Verwandlung und (scheinbare) Anverwandlung. Eine Theaterform aber, die sich selbst nicht traut – wo mag sie enden? Jedenfalls darf auch dies bezweifelt werden: Dass mit Unterwerfungsgesten vorauseilender Bußfertigkeit die Deutungshoheit über das eigene Metier (zurück-)gewonnen werden kann.
„Nussknacker“ oder „Fridays for Future“?
Was den historisierenden „Nussknacker“ des Staatsballetts Berlin betrifft, so hört man inzwischen, nach zuvor weniger bestimmt klingenden Verlautbarungen, er sei nur vorübergehend ins Depot verbannt. Angeblich zeigen die Choreographen (und Inhaber der Urheberrechte) sich offen für zeitgemäße Lösungen für die „orientalischen“ und „chinesischen“ Variationen.
In der Tat wünschenswert wäre, dass letztlich der Kunstform des Balletts und ihrer Geschichte verpflichtete Gründe und nicht allein Aspekte des Klimaschutzes das Fortleben dieses „Nussknackers“ sichern werden. Klimaschutz? Immerhin wurde die teure und ressourcenintensive Produktion bislang eher selten gezeigt, insbesondere, weil der zeitweilige Staatsballett-Intendant Nacho Duato sie zugunsten seines eigenen „Nussknackers“ ruhen ließ. Christian Spuck, der ebenfalls eine eigene „Nussknacker“-Version in petto und versprochen hat, 2023 nach Berlin zu kommen, könnte ebenso verfahren (wie auch mit „Dornröschen“, das in Berlin gerade völlig neu produziert wird – zum dritten Mal in 17 Jahren).
Eine Diskussion über CO2-Sünden und Nachhaltigkeitsdefizite beim Staatsballett Berlin, weil es immer wieder neue Zweitinszenierungen des „Nussknackers“ herausbringt, während eine vorhandene Produktion mit bemerkenswerten Alleinstellungsmerkmalen und starkem Publikumsappeal längst nicht „abgespielt“ ist? Dann würden Berliner „Fridays for Future“-Demonstrationen künftig vielleicht zu den Spielstätten des Staatsballetts ziehen. Und wohl leider zu Recht.