Am 4. April zog Igor Zelensky, in seiner sechsten Spielzeit nun auf dem Höhepunkt seiner Direktion beim Bayerischen Staatsballett, einen glatten Schlussstrich. Er räumt das Feld – vorgeblich aus familiären Gründen. 70 Tänzerinnen und Tänzer stehen – von einem Tag auf den anderen – plötzlich ohne ihren künstlerisch höchst akribischen, in der Szene international bestens vernetzten wie erfolgreichen Chef, der im russischen Labinsk geboren wurde, da. Das wird gewiss alle beuteln.
Das famos aus vielen Nationalitäten und darstellerischen Individualisten zu einer durch und durch professionellen Einheit geformte Ensemble steht vor einer einschneidenden Umbruchsituation. Deren tiefergehende Auswirkungen werden sich wohl erst nach und nach in den nächsten Wochen bzw. im Zuge der Suche nach einem würdigen Nachfolger für das jetzt verwaiste Amt zeigen.
Wird man sich diesmal für einen choreografierenden Spartenleiter entscheiden? Oder jemanden nominieren, der sich mit mehr Gewicht auf zeitgenössisch-experimentellen Stücken um die in bester Form hinterlassene Truppe bewirbt? Nicht weniger als das Fortbestehen des Bayerischen Staatsballetts in seiner derzeitig personell fabelhaften Aufstellung hängt von dieser Entscheidung ab.
Die Kontinuität bei der täglichen Arbeit und weiterer Repertoireplanung während der Übergangszeit wird das Ballettmeister-Tandem Judith Turos und Thomas Mayr sicherstellen. Zweifelsohne mit ihrer bislang schon mehrfach bewiesenen kundigen Führungsstärke und Werkkenntnis. Außerdem soll Zelenskys Ehefrau Yana, die einen laufenden Vertrag als Ballettmeisterin hat, ihre – für lupenreine Technik bekannte – Trainingsfunktion auch noch in der nächsten Spielzeit ausüben. Das sorgt zusätzlich für qualitative Stabilität hinter den Kulissen.
Um die neue Situation mental aufzufangen, hatte das Staatsballett – direkt im Anschluss an eine enorm repertoiredichte und anstrengende Ballettfestwoche – zwei tanzfreie Tage. Schon am 16. April steht mit Roland Petits „Coppélia“ – der ersten Werkübernahme des 2011 verstorbenen französischen Choreografen durch Zelensky beim Bayerischen Staatsballett überhaupt – eine große Wiederaufnahme auf dem Programm. Die erste des heiteren Klassikers seit der Premiere Mitte Oktober 2019, da die geplanten Aufführungen für die Saison 2019/2020 durch die Pandemie ausgebremst worden waren.
Es bleibt die Erinnerung an zahlreiche glanzvolle, teils zunächst umstrittene Tanzabende wie „Giselle“ (die Antrittspremiere unter neuer Leitung im September 2016) oder „Spartakus“ im von Zelensky mit einwandfreien Neueinstudierungen stark forcierten Bereich des Handlungsballetts. So feierten Christopher Wheeldon mit „Alice im Wunderland“ und Christian Spuck mit „Anna Karenina“ ihr Hausdebüt beim Bayerischen Staatsballett, ebenso wie Wayne McGregor mit dem eine Uraufführung umfassenden eigenen Dreiteiler „Portrait Wayne McGregor“.
In der Spielzeit 2019/20 wurde Andrey Kaydanovskiy zum Hauschoreographen ernannt. 2021 kreierte er mit und für die Münchner Kompanie sein allererstes abendfüllendes Werk „Der Schneesturm“ zu einer Auftragskomposition von Lorenz Dangel. Im Triple Bill „Paradigma“ und zuletzt dem brisanten Festwochenauftakt „Passagen“ wurden dem Publikum mit Sharon Eyals „Bedroom Folk“, Liam Scarletts „With a Chance of Rain“ sowie Uraufführungen von David Dawson und Marco Goecke Werke von Tanzschaffenden vorgestellt, deren Arbeiten bislang noch nicht beim Bayerischen Staatsballett zu sehen waren. Mit der Reihe „Heute ist Morgen“ (zuvor: „À Jour“) führte Zelensky ein Format ein, das jeweils zum Spielzeitende der einer jüngeren Generation die Möglichkeit für zukunftsweisende Neukreationen bot.
Nicht die anfänglichen Superstars Sergei Polunin und Natalia Osipova oder für einzelne Vorstellungen ins Ensemble hinzugeladene renommierte und spannende Gastsolisten haben das Antlitz dieser Kompanie geprägt, sondern wunderbare Tänzerinnen und Tänzer wie die Engländer Laurretta Summerscales und Jonah Cook, die beiden Kubaner Osiel Gouneo und Yonah Acosta, der aus Dalian, China stammende Jinhao Zhang und der Australier Emilio Pavan, die gebürtige Wienerin Prisca Zeisel und neben vielen Südländern gebürtige Russen wie Ksenia Ryzhkova und Dmitrii Vyskubenko. Gerade für geniale Nachwuchstalente wie den Prix Lausanne-Gewinner António Casalinho und Margarita Fernandes – beide aus Portugal – hatte Zelensky ein gutes Händchen.
Mit einer fabelhaften „Cinderella“-Aufführung klang am Sonntag-Abend die Festwoche des Bayerischen Staatsballetts so herrlich kitschig wie familientauglich ausstattungspompös aus. Ein allerletztes Mal konnte man Zelenskys in der rechten Portal-Mittelloge ausmachen. Von dort blickte der scheidende Ballettchef immer wieder hinter dem Vorhang halb verdeckt in den Zuschauerraum. In den Hauptrollen hatten Maria Baranova und der in Moskau ausgebildete und seit 2016 unter Zelensky vom blutjungen Ensemblemitglied zu einem beachtlichen Solisten gereifte Dmitrii Vyskubenko debütiert.
Vorausgegangen war ein neuntägiger Vorstellungsreigen, der dem Leitungsteam eine Programm- und viele kurzfristige krankheitsbedingte Umbesetzungen abverlangte. Alles wurde gemeistert, nicht jedoch die Fragen, die zu Igor Zelenkys möglicher Putin-Nähe aufgekommen waren. Trotzdem kam sein Aus als Chef des Bayerischen Staatsballetts unerwartet – elegant als leiser Abschied verpackt. Der Entschluss, seine seit 2016 konsequent mit stets sichtbaren Resultaten aufgebaute Kompanie kurz vor Bekanntgabe von Plänen für die kommende Spielzeit zu verlassen, wird Zelensky nicht leichtgefallen sein. Auf die zeitgleiche künstlerische Leitung des zweitgrößten Moskauer Ballettensembles am Stanislawski und Nemirowitsch-Dantchenko-Theater hatte er kurz nach seinem Amtsantritt verzichtete, um sich voll und ganz dem Bayerischen Staatsballett zu widmen.
„Eine Ballettkompagnie zu führen, erfordert absolute Konzentration und Kapazität“, so schreibt Igor Zelensky in seiner auf der Website der Bayerischen Staatsoper veröffentlichten Rücktrittsbegründung. „Aktuell verlangen jedoch private Familienangelegenheiten meine volle Aufmerksamkeit und Zeit, die mit der Leitung einer Ballettkompanie nicht vereinbar sind. Daher habe ich mich nach reiflicher Überlegung dazu entschlossen, als Ballettdirektor des Bayerischen Staatsballetts mit dem 4. April 2022 zurückzutreten und mich von allen damit einhergehenden Aufgaben zurückzuziehen. Meine Familie braucht nun meine ganze Unterstützung.“ Offiziell ausgelaufen wäre sein 2019 verlängerter Vertrag 2026.
„Ich habe großen Respekt vor dieser nicht einfachen Entscheidung und wünsche Igor Zelensky und seiner Familie alles Gute“, so Staatsintendant Serge Dorny. „Herr Zelensky hat es in den vergangenen Jahren geschafft, den internationalen Ruf des Bayerischen Staatsballetts weiter zu festigen. Dies ermöglicht es uns, mit Zuversicht in die Zukunft zu blicken. Ich möchte Igor Zelensky aufrichtig für seine Arbeit für das Bayerische Staatsballett danken.“