Auf Basis der Schriften des „tanzenden Philosophen“ Friedrich Nietzsche sowie anhand der Beispiele von Isadora Duncan und Martha Graham versucht Kimerer L. Lamothe der Frage nach dem Wert unserer Körper nachzugehen. Indem sie Aspekte der drei Persönlichkeiten beleuchtet, die von Gelehrten teilweise übersehen werden, erschließt die Autorin neue Interpretationsmöglichkeiten ihrer Werke.
„Wie können wir, als Menschen des 21. Jahrhunderts, die körperlichen Dimensionen unseres Seins leben?“ „Welchen Wert haben unsere Körper?“ sind Fragestellungen, bei denen Friedrich Nietzsche bereits eingreifen würde. Das „Ich“ vom Körper zu trennen ist schon eine falsche Herangehensweise, denn das „Ich“ ist nichts anderes als der Körper: „»Ich« sagst du und bist stolz auf dies Wort. Aber das Größere ist, woran du nicht glauben willst – dein Leib und seine große Vernunft: die sagt nicht Ich, aber tut Ich.“ (aus: „Also sprach Zarathustra“)
In ihrem Buch „Nietsche’s Dancers: : Isadora Duncan, Martha Graham, and the Revaluation of Christian Values“ stellt Kimerer L. Lamothe Verbindungen zwischen Nietzsches Überlegungen und zwei Pionierinnen des Tanzes des 20. Jahrhunderts her und zeigt den Einfluss des Philosophen auf ihre Kunst. Alle drei beschäftigen sich mit der Problematik, dass der menschliche Körper von christlicher Theologie und Moral und von deren Abkömmling, der modernen Wissenschaft, abgewertet wird. Alle drei benutzten den Tanz (als Bild, Praxis oder Kunst) nicht nur als Kritik am christlichen Körperverständnis, sondern auch als Ausdruck der Wertschätzung unseres körperlichen Seins.
Der Tanz war sowohl für Nietzsche als auch für Duncan und Graham eine Methode um Kenntnisse über Religion zu gewinnen: Kenntnisse, die das dynamische, kreative Werden unseres körperlichen Seins bejahen. So hinterfragt Nietzsche auch den Glauben an Worte als Vehikel der Wahrheit. Er zeigt, wie dieser Glaube seinen Ausdruck in einer Moral und Wissenschaft findet, die eine Feindseligkeit gegenüber dem Leben hervorruft.
Kimmerer L. Lamothe, sowohl Tänzerin als auch Religionswissenschaftlerin, beschreibt das Dilemma der Wissenschaften folgendermaßen: „Scholars in all fields invest their time in thinking about bodies via data provided to them through various logical and technological extensions of human sense, books included; and in doing so they practice ignoring the experience of their own bodies as a precondition for the objective status of their scholarship.”
Das Buch ist in drei Teile gegliedert, dessen erster Teil Friedrich Nietzsche und seine Werke behandelt. Lamothe analysiert auch, welche Einflüsse zu Nietzsches Interesse am Tanz geführt haben könnten.
In Nietzsches Texten tanzen viele: Dionysos, freie Geister, Zarathustra, aber auch Philosophen, Gedanken, Worte, Sterne und Federn. Tanz taucht in seinen Büchern als Kunst auf, als Religion, als Erfrischung, als Sprache von Gesten und als Erfahrung eines verzückenden Rausches.
In der Antike findet Nietzsche die höchste Bejahung des Lebens, eine Bejahung auch von Leid und Schuld - ohne Einschränkung. Diese höchste Bejahung repräsentiert für Nietzsche das, was ihm im christlichen Wertesystem fehlt.
Schon in Nietzsches frühen Werken gibt es Tanz-Bilder. Im zentralen Werk „Also sprach Zarathustra“ repräsentiert Zarathustra als Tänzer den Glauben an das körperliche Werden. Nietzsches spätere Arbeiten beschreiben eine Vision vom Tanz als physisch-spirituelle Praxis, die als Gegenmodell zum asketischen, lebensverneinenden Ideal verstanden werden kann.
Nietzsche fordert seine Leser auf, Denken als eine Art Tanzen zu erlernen. So wird Denken eine körperliche Disziplin, die eine physische Technik und Praxis erfordert. Eine Person, die wissen möchte, wie man denkt, muss also auch wissen, wie man tanzt.
Der zweite Teil des Buches zeigt Nietzsches Einfluss auf Isadora Duncans (1877-1928) Vision vom Tanz als „hoher religiöser Kunst“ und beschreibt die drei Prinzipien ihres Tanzes: das Studium der Natur, Bewegungsharmonisierung und das Aufwecken der Seele. Isadora Duncan identifiziert ihre eigene Vision mit der des Zarathustra: ihr Tanz soll helfen, den Glauben an einen außerweltlichen Gott zu überwinden indem sie Frauen das Bewusstsein gibt, ihr körperliches Sein sei heilig und schön, sei Quelle der höchsten Ideale.
Für Duncan ist der Tanz insofern „religiöse Kunst“, als er die Freiheit der Frauen symbolisiert.
Martha Graham (1894-1991) betrachtet Isadora Duncan - neben Ruth St. Denis - als Mentorin. Ihr ist der dritte Teil des Buches gewidmet. In einem ihrer ersten Interviews als Tänzerin bei Denishawn bemerkt Graham: “I owe all that I am to Nietzsche and Schopenhauer“
Friedrich Nietzsche hat großen Einfluss auf Grahams Vision vom Tanz als Lebens-Bejahung durch Bewegung. Ähnlich wie Duncan findet Graham in Nietzsche eine Inspiration für getanzte Religion. In ihren Tänzen wird die durch das christliche Erbe hervorgerufene Feindseligkeit gegenüber dem weiblichen Körper aufgehoben. Häufig bedient sie sich zur Beschreibung des Tanzes einer religiösen Sprache. Graham betont, wie die Praxis „Vertrauen“ und „Glaube“ schafft, aber auch „Gnade“ mit sich bringt. Tänzer werden zu „Athleten Gottes“. Diese Worte zeigen, dass Graham die Ideen Nietzsches und Duncans weiterführt um bestehende Werte umzuwerten. Auch ihre Entwicklung von Contract und Release als „stilisierter Atembewegung“ zeigt, so Kimerer Lamothe, Einflüsse von Friedrich Nietzsche. Graham lernt Atemtechniken und Yoga unter anderem bei Denishawn kennen. In der Entwicklung ihrer eigenen Tanztechnik aber setzt sie den Atem nicht als Weg zu spiritueller Transzendenz, sondern als Möglichkeit des kreativen körperlichen Werdens ein.
Sowohl Tanz als auch Religion, wie sie heute in Amerika gelebt werden, sind für Lamothe zwei unterschiedliche Ausformungen des asketischen, lebensverneinenden Ideals. Tänzer perfektionieren ihre Trainingstechnik, Religionsanhänger suchen spirituelle Perfektion. „We lack the deep spiritual freedom to transcend – not „the body“, but the shapes of the past ideals we have become, in body and mind. […] we grow incapable of mustering the strenght to respond to the challenges of life without engaging in acts of self-denial. We respond to our pain by hurting ourselves. We beg for forgiveness and seek a sense of our oneness with the powers that be, even in their apparent opposition to us. We thus dwell inside idea-edifices that express our faith in the ascetic ideal.”
Oder in Zarathustras Worten: wir lieben uns nicht genug. Wir tanzen nicht. Um bestehende Werte umzuwerten, ist es, so Lamothe, notwendig, dass Menschen das Verhältnis zu ihrem körperlichen Sein neu erlernen. So wird eine Philosophie geschaffen, in der der Tanz zum Ideal für eine Praxis wird, die Menschen ermöglicht, ihr Verhältnis zum körperlichen Sein neu zu lernen, zum Ideal für das Wissen vom Selbst als körperliches Werden und zum Ideal für eine Religion, die die Liebe zum Körper pflegt.
Kimerer L. Lamothe: Nietzsche's Dancers: Isadora Duncan, Martha Graham, and the Revaluation of Christian Values, Palgrave 2011
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