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02 Carise iconDer Wunsch, in Krisenzeiten wenigstens für einige Augenblicke der Realität zu entgehen, lässt fantastische Tanzblüten treiben. Dies stellen (nicht nur) die Zwanziger- und Dreißigerjahre unter Beweis. Oft wuchsen aus der klassischen Strenge, die man erlernt hat, Geschöpfe, die in ihrer verwirrenden Vielfalt und blendenden Schönheit die Sinne betörten. Zu diesen zählten auch viele Wiener Tänzerinnen. Von einer von diesen – wie sich Erni Kaiser zu Erna Carise wandelte und ihr „Ballett Carise“ zur Marke wurde – handelt das Folgende.

Erna Renée Charlotte Maria Mathilde Kaiser, am 2. Oktober 1906 als Tochter von Ernst und Charlotte Kaiser in Wien geboren, erhielt eine profunde Tanzausbildung an der Privatschule der letzten Primaballerina der Wiener Hofoper, Cäcilie Cerri. Schon als Achtzehnjährige verfügte Erni Kaiser über ein so hohes Renommee, dass die Zeitschrift „Die Bühne“ in ihrem 1924 veröffentlichten Artikel „Man tanzt im Nachtlokal. Ein Spaziergang durch die Wiener Tanzetablissements“ über die junge Tänzerin befand: „Die Cerri-Schülerin, die interessante und sehr ernst zu nehmende Erni Kaiser, weiß ihren oft gewagten Tänzen vollste Anerkennung und vor allem Achtung zu verschaffen. Sie ist eine Nackttänzerin, wie etwa Bella Siris, ihr Körper aber wirkt ähnlich wie der der Bauroff, rein künstlerisch.“03 Carise3

Vergleiche mit der norwegischen „Tanztragödin“ Bella Siris und der als seriöse Vertreterin der Tanzmoderne angesehenen Claire Bauroff mochten durchaus schmeichelhaft gewesen sein (wobei angemerkt sei, dass mit der Etikette „Nackttänzerin“ seit dem Auftreten Isadora Duncans in Wien Anfang des Jahrhunderts selbst Künstlerinnen versehen wurden, die unverhüllt bloß ihre bloßen, nicht in Trikots steckenden Beine zeigten). Erni Kaiser aber sah offenbar in dem Bericht der „Bühne“ und in der Erwähnung des Nachtlokals „Tabarin“ ein Infragestellen ihrer künstlerischen Ernsthaftigkeit, denn sie ließ die Redaktion wissen, dass sie nicht die Absicht habe, im „Tabarin“ aufzutreten, da sie sich ausschließlich dem „Kunsttanz“ widme. Möglicherweise wollte die aufstrebende Tänzerin auch nicht mit einem Etablissement in Verbindung gebracht werden, das seit den Ende 1922 dort stattgefundenen skandalumwitterten Auftritten Anita Berbers einen sehr speziellen Ruf als Plattform für Tanz hatte.

04 Carise4Spätestens 1926 aber hat Erni Kaiser den für sie zukunftsträchtigen Weg gefunden. Nach ersten Auslandserfolgen in München zählte sie zu den Tanzattraktionen der von dem Wiener Revue-Spezialisten Emil Schwarz im Berliner Theater des Westens herausgebrachten Ausstattungsrevue „Der Zug nach dem Westen“ (in der Willi Forst einer der Hauptdarsteller war). Ihr Fernbleiben beim Wiener Gastspiel dieser Revue 1927 im Apollo-Theater wurde allgemein bedauert, durch einen großen Artikel der „Bühne“ aber hinreichend erklärt. Aus Erni Kaiser war nämlich durch ein Neuarrangement der Buchstaben ihres Familiennamens Erna Carise geworden, als solche hat sie ein Engagement nach Paris an die „Folies-Bergère“ erhalten und erregte Aufsehen in der Revue „Un Vent de Folies“, deren Star Josephine Baker war. Abbildungen von Erna Carises in dieser Revue im Ganzkörpertrikot schwül-träge ausgeführten Krokodilstanz fanden Eingang in internationale Magazine. Einem anderen ihrer Tanzfotos wurde Platz eingeräumt in einem Sammelalbum für Zigarettenbilder.05 Carise5

In Wien konnte man Erna Carise erst wieder 1928 erleben – diesmal im Kino, in dem in Paris gedrehten Josephine-Baker-Film „La Revue des Revues“ („Die Königin von Paris“; Regie: Joe Francis). Die Wiener Erstaufführung dieses „Monumentalfilms“ ereignete sich am 24. Februar im größten Lichtspieltheater der Stadt, dem Zirkus-Busch-Kino mit seinen fast 1800 Plätzen, und gleichzeitig in zehn weiteren Kinos! (Die als „der größte Revuestar der Welt“ annoncierte Baker war in Wien erstmals schon im August 1927 – ebenfalls in elf Kinos – in „Ein Rutscher nach Paris“ als Leinwandattraktion zu sehen gewesen.) Am 1. März 1928, sechs Tage nach der Premiere des Films „Die Königin von Paris“, trat Josephine Baker zum ersten Mal leibhaftig in Wien auf. Als Star der Revue „Schwarz auf Weiß“ im Johann-Strauß-Theater ist sie Stadtgespräch, das auch durch die ihrem Gastspiel vorangegangenen Störaktionen des christlich-sozialen Abgeordneten Anton Jerzabek im Nationalrat sowie kirchlicher und rechtsgerichteter Kreise kräftig angeheizt wurde. Für den Rezensenten der „Neuen Freien Presse“ verkörpert sie „Negerkraal und letztes Paris zugleich, Afrika und Boulevard bei Nacht“. Das Interesse an ihrer Person war naturgemäß so groß, dass die vom Publikum Gefeierte anschließend an die Auftritte im Theater Nachtvorstellungen mit ihrer eigenen Jazz-Kapelle im intimen Rahmen des „Pavillon“ in der Walfischgasse gab. Und die Wiener Kinos reagierten auf den Baker-Boom, indem sie schnell auch ihren neuesten Film, „Das Mädchen aus den Tropen“, ansetzten.

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Währenddessen schickte sich ihre Wiener Bühnen- und Filmkollegin an, Amerika zu erobern, denn das Jahr 1928 sah Erna Carise in New York, wo sie mit Ben Pollack & His Orchestra in einer Show im Little Club auftrat. Mit dem erfolgreichen Gastspiel in der Showbusiness-Metropole folgte sie dem Beispiel, das Wiener Tanz-Kolleginnen bereits vor ihr gegeben haben: am nachhaltigsten Albertina Rasch als Tänzerin, Choreografin und Leiterin einer Balletttruppe, aber auch Grete Wiesenthal, Maria Ley, Elsie Altmann oder Tilly Losch. Sie alle legten ein eindrucksvolles Zeugnis von Wiener Tanzkunst ab.

07 Carise7In Paris, der Stätte ihrer größten Erfolge, wurde Erna Carises Stellung als eine Größe des Varieté- und Revuetanzes durch den eminenten Tanzschriftsteller André Levinson bekundet, der in das Kapitel „La Danse au music-hall“ seines 1929 in Paris erschienenen Buchs „La Danse d’aujourd’hui“ nicht weniger als vier Fotos der Tänzerin aufnahm. Und auch Malerei und Fotokunst spiegeln Erna Carises Reputation wider: Kees van Dongen porträtierte sie, Madame d’Ora gestaltete Aktaufnahmen. Als erster und bis heute einziger Wienerin war es ihr gelungen, in den „Folies-Bergère“ Fuß zu fassen. In dem seit 1869 bestehenden Haus haben Berühmtheiten der Belle Epoque wie Loïe Fuller, La Tortajada, La belle Otéro, die Five Sisters Barrison, Mistinguett, Cléo de Mérode, Mata Hari, Régina Badet, Saharet, Rosario Guerrero, Gaby Deslys, Tórtola Valencia, Natacha Trouhanowa, Adorée Villany und Stacia Napierkowska Tanzgeschichte geschrieben. Und auch die Ballett-Ikone Anna Pawlowa soll hier aufgetreten sein. (Mit Ausnahme von Badet und Trouhanowa haben alle Genannten auch in Wien gastiert; Cléo de Mérode, eine gebürtige Pariserin, hatte sogar österreichische Eltern, und die jüngste der dänischen Barrison-Sisters, Gertrude, wurde im Laufe ihrer Karriere zur Wahlwienerin und zu einer frühen Exponentin der Wiener Tanzmoderne.)08 Carise8

1929 kehrte Erna Carise als international gefeierter Star zurück nach Wien, um ein Engagement in Karl Farkas᾽ und Ludwig Hirschfelds Ausstattungsrevue „Bitte recht freundlich …!“ – abermals mit Emil Schwarz als Regisseur – im Stadttheater anzutreten. Der weitere Weg der von der Kritik als „ein Haupttreffer des Abends“ bezeichneten Künstlerin führte zu einem Engagement nach Marseille und von dort nach Paris, wo sie 1931 wieder in den „Folies-Bergère“ auftrat, nun bereits als Vedette der Revue „L᾽Usine à Folies“. Zu den Ausstattern dieser Produktion zählt Paul Seltenhammer, ein Landsmann von Erna Carise, der mit seinen Kostümentwürfen „a real Freudian element of eroticism“ (Charles Clarke) einbrachte. Das Porträt der Wienerin ziert die Titelseite des Programms, den Star-Auftritt hat sie – diesmal im Schlangenkostüm – als „La Femme aux Serpents“.

09 Carise9Um 1933 gründete sie ihr eigenes Unternehmen, die „Ballett-Revue Carise“, mit der sie während der nächsten sechs Jahre ausgedehnte Tourneen unternahm. Etwa zwölf Tänzerinnen (darunter mehrere Wienerinnen) bildeten den Stamm des Ensembles, dem zeitweise auch die exzellente Sabine Ress als Tanzregisseurin, das Revue-Ass Conny Alexiew als Solotänzer und die klassisch geschulte Varieté-Tänzerin Marga Berndt als Solotänzerin angehörten. Walter Jankuhn, der Berliner Operettenstar (Partner von Fritzi Massary und Darsteller des Dr. Siedler in der Uraufführung von „Im weißen Rössl“), war als Gast-Tenor verpflichtet. Mit den Produktionen „Ein Märchen vom Glück“ und „1000 Freuden einer Nacht“ tourte man durch ganz Deutschland, Italien, Frankreich, Belgien und Nordafrika. „Das Carise Ballett besitzt gutes, zum Teil recht beachtliches tänzerisches Material“, konstatierte 1934 anlässlich eines Gastspiels der Truppe im Berliner „Wintergarten“ der Tanzartistik-Spezialist Bescapi in der Zeitschrift „Der Tanz“.foto carise neu

Im Oktober 1939 stand Wien auf dem Tourneeplan, man gastierte im „Ronacher“, Erna Carise war zu diesem Zeitpunkt aber nicht mehr in Europa – sie war im August 1939 in die USA aufgebrochen. Leiter des Ensembles ist nun Rudolf Kaiser, der Bruder von Erna. Er war es auch, der 1944 das Carise-Ballett in der Pantomime „Der Froschkönig“ in einer Hagenbeck-Zirkusrevue im Wiener Renz-Gebäude präsentierte. Noch einmal kehrte das Ensemble nach Wien zurück: Im Theaterunternehmen „Das Bouquet“ trat es im Sommer 1946 gemeinsam mit dem Hedy-Pfundmayr-Ballett in einer Freilicht-Aufführung von „Die lustige Witwe“ am Platz des Wiener Eislaufvereins auf. Johannes Heesters und Esther Réthy waren die Protagonisten der vom Publikum gestürmten Aufführungsserie.

11 Carise11Unterdessen hatte Erna Carise Engagements als Tänzerin, Sängerin und Regisseurin in den USA, etwa im „Latin Quarter“ in Boston und im „Royal Casino“ in New York. Ungewiss ist, ob es noch einmal zu einer Zusammenarbeit mit dem gemeinsam mit seinem Bruder Arthur nach New York geflüchteten Emil Schwarz kam, der ab 1940 am Broadway das Etablissement „Old Europe“ betrieb, in dem prominente Wiener Immigranten Kabarettprogramme bestritten. Mit ihrem Ehemann Robert Gerling, dem Sohn des deutschen Unternehmers Robert Wilhelm Gerling, lebte Erna Carise in Los Angeles, wieder Single, war sie in New York wohnhaft. 1950, mittlerweile US-Staatsbürgerin geworden, kehrte sie zurück nach Europa und wurde in Kitzbühel sesshaft. Ihrer Wahlheimat widmete der nun zur Autorin mutierte Tanzstar das 1953 erschienene Buch „All about Kitzbühel“. 1968 fand ihre Schlankheitsfibel „Hurra, die Punkt-Diät ist da“ große Verbreitung, es folgte 1970 „Hurra, das Punkt-Kochbuch ist da“ und im selben Jahr wurde ein Opus ihrer kompositorischen Tätigkeit, der Song „Somewhere in this World“, zu dem sie auch den Text verfasste, ediert. Auch als Performerin war sie wieder aktiv: 1969 und 1975, mehr als vier Jahrzehnte nach ihren gemeinsamen Auftritten in Paris, sorgte Erna Carise an der Seite von Josephine Baker bei deren „Sensationsgastspielen“ in der Kitzbüheler „Tenne“ erneut für Furore!12 Carise12

Die Erinnerung an die am 6. Jänner 1981 in Kitzbühel verstorbene prominente Wahl-Gamsstädterin – ihr Grab befindet sich auf dem Friedhof Kitzbühel – wird nicht zuletzt durch ein nach ihr benanntes „Legenden-Zimmer“ im Kitzbüheler Sporthotel Reisch wach gehalten.

PS

In einer Schilderung der wahrhaft glanzvollen Historie der seit 150 Jahren existierenden „Folies-Bergère“ dürfte neben dem Namen von Erna Carise der eines – männlichen – ebenfalls aus Wien stammenden Revue-Etoiles nicht fehlen. 1933 entdeckte Mistinguett bei ihrem Wien-Gastspiel im „Ronacher“ einen jungen Tänzer, den sie kurzerhand nach Paris mitnahm und seine Karriere lancierte – die Legende besagt, sie habe ihn mangels Reisedokumente in einem Kostümkoffer nach Frankreich geschmuggelt. Unter dem Namen Frédéric Rey hatte der Wiener mehrere Jahrzehnte die Position des führenden Tänzers der „Folies-Bergère“ inne und war über einen langen Zeitraum ständiger Partner von Josephine Baker (auch bei ihren Auftritten vor alliierten Soldaten in Nordafrika während des Zweiten Weltkriegs). Enthusiastische Äußerungen über Frédéric Reys Auftreten in der „Folies-Bergère“-Revue „La Folie d’Amour“ (1936) stammen aus der Feder von Colette. A. E. Whily-Tell sieht ihn als besten „Jeune premier élégant“ seiner Zeit, als fabelhaften Künstler, der angezogen schön, nackt sensationell ist.

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Details zur Karriere von Erna Carise in den USA stammen aus „Erna Carise“ im Blog „Jazz Age Club“ von Gary Chapman. Dank für Auskünfte und Recherche zu Auftritten von Josephine Baker in Kitzbühel ergeht an Signe Reisch sowie an Dr. Wido Sieberer und Sylvia Nothegger vom Stadtarchiv Kitzbühel.