„Man zieht ein Resümee und vergleicht das eigene Empfinden mit der Welt“, schreibt Viennale-Präsident Eric Pleskow in seinem Vorwort für den mehr als 300 Seiten starken Katalog. Durch die sachkundigen Vorschauen und Ausführungen ist dieser viel mehr als ein aktueller Programmführer und kann jahrelang als Lesestoff dienen. Das Wiener internationale Filmfestival Viennale hat gerade erst begonnen und bietet bis 6. November Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme.
Kleine Auswahl. Viennale, das heißt für jede und jeden nicht nur etwas sondern ziemlich viel. Einen ganzen Sonntagnachmittag braucht man schon, um sich durch den schönen Dschungel zu kämpfen. Und inmitten der großen und internationalen Filme fällt mir ein kleiner österreichischer Film (Fernsehformat, 45 Minuten) auf, der durch seine ungekünstelte Art aus dem Rahmen fällt. „Über Leben“ von Josh Josimovic erzählt die Geschichte zweier alter Herrschaften, die einander in Wien kennen und – ich darf ruhig sagen – lieben lernen. Und doch ist es keine Liebesgeschichte, sondern die Geschichte des bewegten Lebens der Mitzi Fleischer, geborene Miriam Rosenblum, Jahrgang 1917 und des Wiener Radiobastlers und –händlers Leo Josimovic, Jahrgang 1932.
Mitzi kam auf Einladung des Jewish Welcome Service aus Amerika nach Wien und besuchte auch ihre alte Wohnung und die Schneiderwerkstatt ihres Vaters in der Leopoldstadt. Genau dort, in den damals leer stehenden Räumen, hatte Leo in den 1950er Jahren seine Radiowerkstatt errichtet. Mitzi ist mit Herz, Hirn und Sprache ein Wiener Kind geblieben und hat sich von Gemeinheit, Verunglimpfung und Vertreibung nicht unterkriegen lassen. Sie hat ihren Humor, ihre Warmherzigkeit und Lebensfreude bewahrt. Und in Leo einen neuen Freund gefunden. Sohn Josh, von Beruf Kameramann, hat die Begegnungen von Leo und Mitzi dokumentiert und mit Interviews und Rückblenden ein ganzes bewegtes Leben eingefangen. Der Film wirkt unmittelbar und geradlinig. Ungeschminkt und natürlich agieren die beiden Protagonisten vor der Kamera, die sie oft gar nicht zu bemerken scheinen. Ohne Schnörkel und Drehbuch, aber mit feiner Dramaturgie, macht dieser Film trotz der Erinnerungen an schlimme Zeiten ein fröhliches Herz. Und zeigt, dass Versöhnung und echte Freundschaft möglich sind. (31.10., 19 h Stadtkino im Künstlerhaus; 4.11., 12 h, Metro.)
Der wunderbare Eröffnungsfilm, „Amour Fou“ von Jessica Hausner, hat die Viennale schon hinter sich, ist aber ab 7. November im Kino zu genießen. Hausner nimmt den sonderbaren Selbstmord Heinrich von Kleists, den er nicht allein begehen wollte, sondern Henriette Vogel überredet hat mit ihm zu sterben, als Ausgangspunkt für ein Nachdenken über die Rolle der Frau damals und heute und über die Liebe, falls irgendjemand sagen kann, was das ist, die Liebe und auch über das Sterben, das gemeinsame Sterben, das es gar nicht gibt, denn „jeder stirbt für sich allein“ sagt schon Hans Fallada in seinem Roman über den Widerstand im Nationalsozialismus. Aber das ist ein anderer Film (oder gleich mehrere). Wie auch immer, „Amour fou“, ein Gruppenbild mit Hund, ist ein einprägsamer Film in historischem Gewand, ironisch bis komisch. Immerhin sucht Kleist ja lange Zeit nach einer Gefährtin beim Sterben. „Die Inszenierung“, sagt Jessica Hausner, „ist eine Choreografie; was gesprochen wird, ist ein Text; und das Ganze ist sozusagen ein Tableau Vivant.“ Sehenswert.
„Pasoli" von Abel Ferrara, (3., 5.11.) ist sowie so ausverkauft, also konzentriere ich mich auf „Stimmen“ von Mara Mattuschka, Der Held ist diesmal ein mehrfacher, multiple Persönlichkeit also. Doch er heißt Alex Gottfarb und ist doch kein Tänzer sondern ein Tenor. Aber der Tänzer Gottfarb hat zum Dank für seinen Namenspatenschaft einen Auftritt in „Stimmen“ bekommen und auch Stephanie Cumming hat eine Rolle, die ihr hoffentlich gefallen hat, denn sie ist „Amor“. Eine Grundhandlung (oder eine Voraussetzung für das Handeln) ist vorhandene, doch sind Filme von Mara Mattuschka keine erzählenden, keine Schritt für Schritt berichteten Abläufe sondern Stimmungen, Ereignisse, Vor- und Rückschritte, Wirrnisse, Gefühle, Lebenskampf, Turbulenzen – einfach hineinfallen, mitschwingen. („Stimmen“, 2.11., 21 h Stadtkino im Künstlerhaus; 4.11., 11 h Metro.)
Und wieder Mal Verführung durch den Titel: „Le Rappel des Oiseaux / der Ruf der Vögel“, der Dokumentarfilmer Stéphane Batut durfte einer tibetanischen Begräbniszeremonie bewohnen, bei der die Körper der Verstorbenen Aasgeiern zum Fraß vorgeworfen werden. Das Nachdenken über den Tod ist immer wieder notwendig. (31.10., 13.30 h, Stadtkino im Künstlerhaus; 1.11., 19.30 h, Metro.)
Viennale 2014, bis 6. November (Gartenbaukino, Stadtkino im Künstlerhaus, Urania, Metro Kinokulturhaus, Österreichisches Filmmuseum). Viennale Festivalzentrum, Dominikanerbastei 11.