Hochbagabte Kindergartenkinder. Und danach? Unser Bildungssystem liegt im Argen. Die PISA-Studie ist ein unbarmherziger Maßstab, der uns jedes Jahr auf Neue vor Augen führt, dass unsere Kinder nicht der Leistungsnorm entsprechen. Doch warum starren wir panikartig auf dieses Testergebnis als einzig gültigen Indikator für den Wert unseres Bildungssystems? In seinem eindrucksvollen Film „Alphabet“ offenbart Erwin Wagenhofer Erschreckendes und zeigt hoffnungsvolle Alternativen auf.
Yang Dongping, der an der Gesetzgebung der chinesischen Regierung im Bereich Schule und Bildung mitwirkt, findet die aktuellen Bildungsstandards im Reich der Mitte „besorgniserregend“. Und das obwohl China beim PISA -Test immer als Klassenbester abschneidet. Und doch ist Chinas Bildungssystem von der Überzeugung getrieben, dass das nicht genug ist. Also gibt es Mathematik-Olympiaden für den Leistungsvergleich. Die beste Schule ist die, die die Erreichung der Lernziele in der kürzesten Lernzeit anstrebt. Dieser Drill ist sogar Andreas Schleicher, dem Internationale Koordinator der PISA (Programme of International Students Assessment)-Studie bei der OECD unheimlich. Aber so sei das eben in unserer leistungsorientierten Welt … Einerseits.
Ein Wirtschaftsfaktor. Andererseits ist Bildung / Erziehung ein mittlerweile nicht zu unterschätzender Wirtschaftsfaktor. 14 chinesische Nachhilfe-Unternehmen sind an der US-Börse notiert. Ihr Slogen: „Kinder dürfen nicht an der Startlinie verlieren!“ führe nun dazu, dass die Kinder im Ziel verlieren, sagt Dongping. Das System mache eine kritische Reflexion unmöglich. Die Kinder sind ausgebrannt, die Suizidraten steigen seit Jahren, und Selbstmord ist mittlerweile die häufigste Todesursache bei jungen Chinesen.
Thomas Sattelberger sieht das Problem darin, dass eine „Verkürzung des Lebens auf die Ökonomie stattfindet“. Der Personalvorstand und Arbeitsdirektor der Deutschen Telekom AG (bis 2012) kann auf eine illustre Karriere in Toppositionen in der deutschen Unternehmenslandschaft, von Daimler über Lufthansa bis zur Continental AG, zurückblicken. Dennoch, oder vielmehr: deshalb, blickt er äußerst kritisch auf unser (Aus-)Bildungssystem.
Schließlich sind es die nach heutigem Standard am Besten ausgebildeten Menschen, akademisch qualifizierte Experten aus der Ökonomie und Finanzwelt, die uns in die heutige Krise geführt haben.
Im Film schauen wir bei einem Seminar bzw. eine Art Wettbewerb der Unternehmensberaterfirma McKinsey vorbei. Der „CEO’s of the Future“ wird gewählt. Da werfen die jungen „Hoffnungsträger“ mit Begriffen wie „strategische Ausrichtung“, „feindliche Übernahme“ etc. um sich. Doch die Konsequenzen ihres unternehmerischen Handels auf Mitarbeiter und Gesellschaft sind dabei völlig ausgeklammert. Was zählt, ist nur „das Unternehmen“ und dessen Profitsteigerung.
Im gut geheizten Kino bekommt man spätestens jetzt eine Gänsehaut.
System zertrümmern. Um diese Entwicklung zu stoppen, bei der nur auf Testresultate geschielt, Lerninhalte nicht mehr kritisch reflektiert und die Zielsetzung des (Schul-)Bildung nicht mehr hinterfragt wird, brauchen wir „Menschen, die die Systeme zertrümmern“, meint also Thomas Sattelberger. Und die gibt es auch.
Der international anerkannte Bildungsexperte und Erziehungswissenschaftler Sir Ken Robinson plädiert dafür, bei der Erziehung zu allererst die Fähigkeit zu unangepasstem Denken zu fördern. Er beruft sich auf Langzeitstudien, die belegen, dass 98 Prozent der Kindergartenkinder diese Begabung besitzen – sie können auf eine Frage mehrere Antworten geben. Nach der Schule sind es allerdings nur noch 2 Prozent. Also müsse etwas im System nicht stimmen. Um das zu ändern sieht Robinson in der Förderung von künstlerischen Tätigkeiten eine Schlüsselrolle für ein reformiertes Erziehungssystem.
Der Pädagoge Arno Stern praktiziert diese in seinem „Malort“ in Paris, und er meint: Wenn Kinder zuerst tanzen, musizieren und malen, käme alles andere von selbst. Schöne Utopie?
Die Weitergabe der Angst. Der Hirnforscher Gerald Hüther versucht die Kritik an unserem Bildungssystem mit neurowissenschaftlichen Studien zu untermauern. Ein Grund, warum man trotz besseren Wissens an diesem System festhält sei die „transgenerationale Weitergabe von Angst“. Diese Angst wirkt lähmend und bewirkt, dass die Kräfte in die Systemerhaltung erstarren statt für Veränderungen eingesetzt zu werden.
Doch dieser Zyklus aus Angst kann auch gebrochen werden. Am Ende von „Alphabet“ lernen wir Pablo Pineda Ferrer aus Málaga, Spanien, kennen. Er ist der erste Europäer mit Down-Syndrom, der einen Hochschulabschluss machen konnte. Pineda Ferrer erfuhr in seiner Kindheit eine besondere Förderung, in dem er eben nicht als etwas Besonderes behandelt wurde. Er ging in reguläre Schulen und wurde von engagierten Lehrern gezielt gefördert. Das ist möglich, weil es in Spanien keine „Sonderschulen“ mehr gibt, sondern inklusives Lernen angesagt ist. Heute ist der selbstbewusste junge Mann Lehrer an einer Schule in Córdoba. (Außerdem ist er Schauspieler, etwa in dem Film „Me too – Wer will schon normal sein?“)
Nach „We Feed the World“ und „Let’s Make Money“ ist Erwin Wagenhofer mit „Alphabet“ eine weitere, gesellschaftspolitisch immanent wichtige Dokumentation gelungen. Dass er dabei nicht nur systemkritische Alternativen aufzeigt, sondern auch Vertreter des Establishments ihre Besorgnis über den Status Quo offen ansprechen, ist ein besonderes Forte des Films und verhindert die sozialromantische Tendenz.
Und er liefert auch keine Rezepte zur Behebung der „Bildungskrise“ denn dafür gibt es keine einfache Lösung. Der Lösungsansatz ist wahrscheinlich in den 98 Prozent der hochbegabten Kindergartenkinder zu finden, die auf eine Frage mehrere Antworten finden.
„Alphabet" , ein Film von Erwin Wagenhofer, ab 11. Oktober in den Kinos.