Höllenritt durch Gogols „Tote Seelen“ im Volkstheater und Kostümreigen bei Handkes „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“ im Theater an der Wien. Kirill Serebrennikow inszeniert Nikolai Gogols 1842 veröffentlichten Roman als atemlose Farce, die lustvoll überfordert. Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper zerdehnen Peter Handkes dialogfreies Stück in die Unendlichkeit, einzig im Publikum verteilte Sänger retten den Abend vor allzu viel Beliebigkeit.
Tote Seelen als Geschäftsidee
Gogols Schlitzohr Tschitschikow schnorrt Gutsbesitzern ihre toten Leibeigenen ab, die in der letzten Revisionsliste noch lebendig gemeldet waren. Das Ziel: diese an den Staat zu verpfänden und so zu Geld zu kommen. Mit nicht vorhandenen Werten lukrative Finanzgeschäfte zu betreiben, ist auch im 21 Jahrhundert hochaktuell, wie geplatzte Blasen bitterlich zutage gebracht haben. Bei Regisseur Serebrennikow, dem 1969 geborenen Leiter des Moskauer Gogol-Zentrums, sind es zehn Männer, die mit feuriger Inbrunst alle Rollen spielen: inklusive die von Frauen, Kindern und rassigen Hunden. Geschenkt wird dem Gauner Tschitschikow aber rein gar nichts bei seiner Tour de Force durch die Gutshöfe - von den Gutsherren und –frauen werden ihm gar manche Stolpersteine in den Weg gelegt. Nicht nur einmal muss er fliehen, besonders bedrohlich wird es, als die fersenkraulenden Matronen der Gutsbesitzerin Karobotschka sein knackiges Fleisch erblicken.
Quantität ersetzt den Tiefgang nicht
Im Theater an der Wien hingegen gerät die Inszenierung von Peter Handkes Stück „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“, in dem es statt Dialogen nur Regieanweisung gibt, zu zweieinhalb Stunden Kostüm-Catwalk. Zahlreiche eher unergiebige Episoden und Episödchen, folgen denkbar unstrukturiert aufeinander. Details gehen im bunten Einheitsbrei unter. Gar mancher eher plumper Witz und an der Oberfläche bleibende Lebens- und Theaterweisheiten schleichen sich auf dem von Peter Handke in seinem Theatertext vorgegebenen europäischen Marktplatz ein. Auftritte verschiedener Ethnien und Vertreter religiöser Gruppen sollen die Multikulturalität widerspiegeln, auch hier setzt man auf Stereotype und Klischees. Selbst ein vermeintliches Schlepperboot wirkt da mehr wie ein Ausflugs-Boot. Großteils bleibt es bei allzu offensichtlichen Allgemeinplätzen: Moderne Sklaven kapitalistischer Arbeitswelten hetzen von A nach B, einzig die ganz Jungen und die Alten fallen aus dem Rahmen. Aus dem System Gefallene, Vertreter des Prekariats, Migranten und Flüchtlinge treten auf, auch hier setzt man weniger auf Tiefgang als auf platte Einfälle. Wunderbar allerdings ein 19-köpfiger - im Publikum verstreut sitzender -Männerchor, der Handkes Regieanweisungen singt (Musik Lars Wittershagen, Chorleitung Uschi Krosch).
Gemein ist den beiden Stücken nur die Länge: rund 150 Minuten. Im Fall von „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“ bleiben die Bilder ohne Substanz und die Zeit wird zu einer gefühlten Ewigkeit. Höchst erfrischend, kurzweilig und lebendig hingegen „Tote Seelen“. Dicht und differenziert erzählt, vergehen die mehr als zwei Stunden wie im Flug.
Nikolai Gogol „Tote Seelen“, Kirill Serebrennikow, Volkstheater, 20.5.2015,weitere Vorstellung 23. Mai 2015
Peter Handke „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“ Tiit Ojasoo, Ene-Liis Semper, Theater an der Wien, 21. Mai 2014, weitere Vorstellung 23. Mai 2015
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