"Out of Context. For Pina" von Alain Platel ist ein Ersatzstück für den ursprünglich auf Einladung von Gerard Mortier geplanten Verdi-Abend an der New York City Opera. Doch Mortier ging nicht nach New York, sondern nach Madrid (wo das Projekt für 2012 geplant ist). Doch die TänzerInnen hatten sich für Platel bereits von anderen Engagements freigemacht und so musste er mit ihnen ein Stück erarbeiten.
„Out of context. For Pina“ mag aus einer ungeplanten Situation heraus entstanden sein – es ist jedoch keinesfalls eine „Verlegenheitslösung“, sondern ein mords starkes Stück Theater, auch wenn es (zumindest im ersten Drittel) die Intensität der beiden Vorgängerstücke „Vsprs“ und „Pitié! Erbarme Dich!“ nicht zu erreichen scheint.
Ging es Platel in den diesen beiden Stücken um die Katharsis menschlichen Leidens, so bricht er in „Out of Context. For Pina“ die stringente Dramaturgie und liefert mit einer Collage ein buntes Kaleidoskop zwischenmenschlicher Verhaltensweisen zwischen Animalischem und Sublimem. Erst am Ende wird klar, dass dieses Stück genauso sorgfältig gestaltet wurde wie die vorangegangenen, und dass es Platel in einer zwanzigminütigen Szene schafft, dem Theater jene Emotionalität zurückzugeben, der sich der Zuschauer nicht entziehen kann. Der Platel-Effekt tritt also auch ein, wenn der Choreograf auf Umwegen „zur Sache“ kommt.
Auf die leere Bühne kommen die neun DarstellerInnen einzeln aus dem Zuschauerraum, um sich am hinteren Bühnenrand bis auf die Unterwäsche auszuziehen und sich danach in Decken einzuwickeln. Zu Tiergeräuschen aus dem Soundtrack fangen sie an einander zu beschnüffeln, zu betasten, zu erforschen. Eine Szene folgt der nächsten ohne dass sich ein Zusammenhang erschließen würde. Verspielt und munter basteln die TänzerInnen an Situationen, mit witziger, melancholischer oder absurder Grundstimmung: In einer Szene produzieren die TänzerInnen die Geräuschkulisse, in dem sie mit den Mikrofonen eine Reihe von Sounds aufnehmen – durch Klopfen auf den Boden, auf die Kulissen auf den Körper - die über Playback immer wieder eingespielt werden. Oder die Begegnung einer Frau und eines Mannes am Strand, die sich bebend nach der Berührung sehnen, und sie doch nicht zulassen können. Oder die Szene zum regelmäßigen Beat einer Bass Drum, in der die TänzerInnen Popsongs ansingen und die sich in einen furiosen Dancefloor entwickelt. Das Stück, das so viele Anspielungen an das Tanztheater der 1980er Jahre enthält, hat eine Dynamik und eine Leichtigkeit gewonnen, wie man sie bei Platel schon lange nicht mehr gesehen hat. Wäre Pina Bausch im Publikum gesessen, hätte sie sicher mitgelacht.
Die letzte Szene kommt zu einem Zeitpunkt, da man glaubt, der Höhepunkt sei längst überschritten. Und nun beginnen die TänzerInnen ihre Körper wieder in jenen Extremen zu bewegen, die bei „Vsprs“ und „Pitié!“ die Grenzen der Erträglichkeit erreichten. Verrenkungen, Kontorsionen, Gesten und Zuckungen beherrschen die Bühne, steigern sich in Platel-bekannter Dichte, machen die ver-rückte Welt sichtbar und verwandeln das Theater in eine Anstalt psychosomatischer Ausbrüche. Schließlich tritt ein Tänzer vor das Publikum und bittet, die rechte Hand zu heben. Als er fragt: “Und wer will mit mir tanzen?“ sinken alle Hände. Mit gesenktem Blick bleibt er stehen und verströmt in seiner verkorksten Haltung unendliche Traurigkeit. Irgendwann ziehen sich alle TänzerInnen wieder an, legen die Decken zusammen und gehen zurück in den Zuschauerraum.
Die vierte Wand gibt es bei Platel schon lange nicht mehr, denn seine Arbeit trifft seine Zuschauer mitten ins Herz.
Alain Platel "Out of Context", am 6. Juni 2010 Wiener Festwochen im Museumsquartier, Halle G
Weitere Vorstellungen: 8. & 9. Juni.