Vom antiken Dionysoskult über die kollektiven Massenwahntänze des Mittelalters oder Szenen des Wahnsinns im romantischen Ballett bis in die heutige Zeit gibt es Annäherungen zwischen Tanz und Wahn. Flashmobs, Techno-Raves oder die Loveparade sind jüngste Ausformungen einer „Tanzwut“, wie die mittelalterliche Bewegung genannt wird.
Der Essay-Sammelband mit dem Titel „Tanz & WahnSinn, Dance & ChoreoMania“, herausgegeben von den Tanzpublizisten Josephine Fenger und Johannes Birringer, beschäftigt sich von mehreren Seiten mit dem Thema – kulturgeschichtlich wie auch tanztherapeutisch oder performancetheoretisch.
Insgesamt bringt das Jahrbuch der Tanzforschung 2011, das vom Henschel Verlag im Auftrag der Gesellschaft für Tanzforschung herausgegeben wurde, 19 Beiträge in fünf Teilen: Teil I beinhaltet historische, kritische und theoretische Perspektiven zur Geschichte des Wahns im Tanz. Teil II bringt Aufsätze zu Tanzwahn und Therapie, Teil III Aufsätze zu Schizoanalyse und Erotomanie, Teil IV zu Tanz, Wahnsinn und Performance und Teil V zur sozialen und politischen Pathologie.
„Was uns an der gemeinsamen Kulturgeschichte von Tanz und Wahnsinn in diesem Buch besonders interessiert, sind die interdisziplinären tanzwissenschaftlichen Annäherungen und die Reflexionen des Themas im zeitgenössischen Theatertanz und in der Tanztherapie.“ schreibt Josephine Fenger in ihrem einleitenden Aufsatz. So beschäftigt sich Anja Weber in ihrem Beitrag mit den Impulsen aus der Neurowissenschaft. Aus der Kognitionsforschung wurde der Begriff „Embodiment“ eingeführt, was stark verkürzt bedeuten könnte, dass Intelligenz und Entwicklung nicht unabhängig vom Körper bestehen können. Psychische Erkrankungen werden heute zunehmend mit Methoden behandelt, die den Körper miteinbeziehen: Jon Kabat-Zinn mit seinen Methoden der achtsame Wahrnehmung des Körpers, um stressbedingte psychische und psychosomatische Erkrankungen zu reduzieren. Oder Marsha Linehan`s Konzept der „Dialektisch-behavioralen Therapie“, das zunächst für chronisch suizidale Patienten entwickelt wurde. Tanztherapie wird unter anderem in der Arbeit mit traumatisierten Menschen verwendet, bei Phänomenen, die für den Patienten sprachlich nicht ausreichend zugänglich sind.
Fabrizio Manco beschäftigt sich in seinem Beitrag „Bodied Experiences of Madness: A Tarantato`s Perception” mit dem aus Süditalien bekannten Tarantismus. Manco beschreibt ihn folgendermaßen: „tarantism is a somatic language in an extra-ordinary state and performance framing, where the body is central in its relation with, but also in contrast to, its environment and boundaries.“ Vom historischen Phänomen ist überliefert, dass Frauen die auf den Tabakfeldern arbeiteten für kurze Zeit durch rhythmischen Tanz aus ihrem „geordneten“ Leben ausbrachen und dadurch Heilung fanden. Für Fabrizio Manco ist „Tarantism“ eine Grundlage für seine Performances, er begreift ihn als einen ritualisierten Ausdruck der Emanzipation.
Mit „Krise“ und deren „Heilung“ setzt sich Natascha Siouzouli anhand der Arbeiten von Regisseur und Choreograph Laurent Chétouane auseinander. Sie beschäftigt sich mit der Krise als Moment der Störung im System, die potentiell „Heilung“ oder „eine andere Zukunft“ ermöglicht. Sie analysiert zwei Inszenierung von Chétouane, bei denen sie die „Blickregimen“ untersucht. Die traditionellen Rollen in Bezug auf die Inhaberschaft des „mächtigen Blicks“ zwischen Akteuren und Zuschauern werden darin getauscht. So darf der Akteur das Publikum anblicken. Der Zuschauer verliert den Status des Betrachters und seine Identität, er wird in die Krise gestoßen.
Auf der Webseite zum Buch www.choreomania.org gibt es Materialien, Videoausschnitte und Bilder von in den Beiträgen behandelten Performances.
Johannes Birringer, Josephine Fenger (Hg): Tanz & WahnSinn / Dance & ChoreoMania. Jahrbuch für Tanzforschung 2011, Henschel Verlag
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