Sidi Larbi Cherkaoui beschäftigte sich mit dem Tango argentino und versammelte vier Tangotänzerpaare, zwei zeitgenössische TänzerInnen sowie vier MusikerInnen zu seiner Version einer „Milonga“. Das Ergebnis ist eine mit Videotechnik und einem Bühnenbild aus transportablen Pappfiguren angereicherte Bühnenshow, die sich auf die Virtuosität im Tango konzentriert.
Sentimental, traurig, sinnlich, wild, ruhig und vor allem leidenschaftlich, sollte er sein, der Tanz, über den George Bernard Shaw einst ätzte: „Tango is a vertical expression of a horizontal desire“.
Sidi Larbi Cherkaoui „Milonga“ beginnt mit dem Video einer Milonga in Buenos Aires, in der die Tanzpaare genau diese Bandbreite an Attributen bieten. Sie sind keine Profis, sondern "normale Leute", vielleicht aus dem Viertel. Sie folgen unterschiedlichen Rhythmen, die einen tanzen bedächtig und langsam, das Paar daneben folgt dem Beat der Musik, die dritten üben sich schon in komplizierteren Variationen. Sie alle folgen ihrer eigenen Logik und sind in ihrer Zweisamkeit völlig aufeinander bezogen.
Ein perfekter Einstieg für eine Auseinandersetzung mit diesem Tanz, möchte man meinen und auch für eine Gegenüberstellung von Tango und zeitgenössischem Tanz. Doch diese Art der intimen Kommunikation der Paare vermisst man in Cherkaouis „Milonga“. Er versucht dem Tango eine weitere Ebenen hinzuzufügen, etwa einen Wechsel zwischen Paartanz und kollektivem Erlebnis, in dem er Tangofiguren in Trios und Gruppentänze arrangierte. Doch dann verlässt er auch diese vielversprechenden Ansätze zugunsten physischer Virtuosität mit komplexem Partnering und dynamischen Sequenzen.
Das Ergebnis sind „zu viele Schritte“, die dem erotischen Gefühl, und damit der Essenz des Tangos keinen Raum lassen. Bei diesem athletischen Figurenreigen gibt es kaum einen Moment der Stille und des Atmens. Auch konnte die Gegenüberstellung von Tango- und zeitgenössischen TänzerInnen nicht wirklich überzeugen, da alle Variationen fast sklavisch dem Rhythmus verhaftet blieben und nie einen Kontrapunkt zur Musik setzten. Der emotionale Gehalt des Tango ging dabei flöten.
Wenn sich Cherkaoui von der emotionalen Ebene zu distanzieren suchte, tappt er aber gleichzeitig in die Falle der Sentimentalität, etwa wenn die Alleingelassene in einer Dreierbeziehung (ein Tango mit einem Mann und zwei Frauen) ihrem Liebeskummer plakativ Ausdruck verleiht. Oder wenn die argentinische Fahne mit Emphase geschwungen wird.
„Milonga“ ist eine Show mit tollen TänzerInnen und MusikerInnen und den technisch eindrucksvollen Videos von Eugenio Szwarcer, die Buenos Aires auf der Bühne auferstehen lassen oder das Ambiente einer Milonga evozieren. (Ein technischer Supergau – Licht und Ton versagten mitten in der Show – stellte die Akteure bei der Österreich-Premiere in St. Pölten noch vor zusätzliche Herausforderungen. Die Panne konnte aber in einer 15-minütigen Unterbrechung wieder repariert werden.) Als Nummernrevue unterscheidet sich das Werk jedoch nicht wesentlich von kommerziellen Tangoshows, die das Tango-Feeling außerhalb des traditionellen Kunstbetriebs (mit unterschiedlichem Erfolg) zu vermitteln versuchen.
Sidi Larbi Cherkaoui ist einer der erfolgreichsten Choreografen des Gegenwartstanzes, auch deshalb, weil er sich immer wieder sehr einfühlsam mit Bewegungsformen unterschiedlicher Kulturen auseinandersetzt, um ihnen eine neue Perspektive zu geben, zum Beispiel in „Sutra“. In „Milonga“ allerdings kratzt er trotz des erheblichen technischen Aufwandes nur an der Oberfläche des Tangos.
Wie sagte es doch die legendäre Tangotänzerin Carmen Calderón? „Der Tango kommt aus den Slums, nicht vom Parkett. Wenn man das nicht mehr sieht oder spürt, dann ist er tot.“
Sidi Larbi Cherkaoui „Milonga“ am 16. November 2013 im Festspielhaus St. Pölten