Diese Fotoreportage behandelt Marco Goeckes Ballett „A Wilde Story", das im Oktober 2022 in der Staatsoper in Hannover zur Uraufführung kam. Inspiration ist das Leben und Werk des irischen Schriftstellers Oscar Wilde. Als bisexueller Künstler, der bis zu seinem tragischen Tod unter den Zwängen und der Prüderie einer lustfeindlichen Viktorianischen Gesellschaft litt, schuf Wilde ein ebenso poetisches wie provokantes Werk.
In Marco Goeckes Ballett begegnet der gleichermaßen gefeierte wie umstrittene Schriftsteller seinen eigenen literarischen Figuren. Autobiographisches und Fiktion verbinden sich in der Inszenierung zu einer vielschichtigen Parabel über das Leben und Leiden. Das Ensemble des Staatsballetts Hannover bringt die Lust und die ewige Suche nach Glück, ausdrucksstark und auf tänzerisch höchstem Niveau, auf die Bühne. (Siehe auch tanz.at-Kritik)
In seiner Choreografie verknüpft Goecke Bilder aus Wildes tragischer Biografie, die ebenso gekennzeichnet ist von phänomenalen literarischen Erfolgen, als auch von seinem letztendlich grandiosen Scheitern, mit Motiven seiner gesellschaftskritischen Kunstmärchen wie „Der glückliche Prinz", „Die Nachtigall und die Rose" und dem seinerzeit als skandalös empfundenen Roman „Das Bildnis des Dorian Gray".
Zur Musik von Jules Massenet, Erich W. Korngold, Debbie Wiseman und der orchestralen Rock Hymne „Tonight, Tonight", der amerikanischen Alternative Rock Band Smashing Pumpkins, entwirft Marco Goecke eindringliche und traumhaft elektrisierende Bilder. Sie werden souverän, differenziert und kraftvoll musikalisch begleitet vom Niedersächsischen Staatsorchester unter der Leitung von James Hendry. Ein klangliches Highlight des abwechslungsreichen Musikprogramms ist zweifellos „Mariettas Lied" aus „Die tote Stadt" von Erich W. Korngold, herzzerreißend mit ausdrucksstarker Stimme gesungen von der australischen Sopranistin Kiandra Howarth.
Mit ebenso präzisem wie einfühlsamen Blick für das Innenleben seiner Protagonisten, in der ihm ganz eigenen, unverwechselbaren energetischen Tanzsprache, spürt Marco Goecke der Lebenslust des gefeierten und skandalumwitterten Dandys bis zu seinem tragischen Ende nach.
1895 wird Oscar Wilde wegen homosexueller Aktivitäten zu zwei Jahren Zuchthaus und schwerer Zwangsarbeit verurteilt. Er wird sich nie wieder von seiner Haft erholen. Gebrochen, gedemütigt und mittellos stirbt Wilde drei Jahre später in seinem Pariser Exil.
tanz.at: Ein abendfüllendes Ballett nach Motiven von Oscar Wilde - Was reizte Sie daran, sich mit dem umstrittenen Schriftsteller des Viktorianischen Großbritannien auseinander zu setzen?
Marco Goecke: Mich haben Biografien von Menschen immer gereizt, so wie mich meine eigene Biografie reizt. In meinem Alter gucke ich auch schon ein bisschen zurück. Ich frage mich auch manchmal, was ist da in deinem Leben eigentlich - meinem Leben als Choreograf oder meinem Leben als Künstler. Das Choreograf- und Künstlersein ist ja der größere Teil meines Lebens. Der kleinere Teil meines Lebens ist ein bisschen Familie, ein bisschen Mutter, mein Hund. Sonst gucke ich nur Fernsehen. Der größte Teil meines Lebens ist diese Arbeit. Und da frage ich mich auch, was ist meine Biografie? Ich habe immer gerne Biografien gelesen und mich für Menschen interessiert, für Menschen, die meine Idole waren oder sind. Da gehört Oscar Wilde nicht so dazu. Aber ich habe das als junger Mensch gelesen und ich fand die Märchen ganz einfach toll. Und vielleicht ein Aspekt in diesem Stück, ich weiß nicht, ob das so rauskommen wird, aber es geht doch darum, dass jemand so lebt, wie er leben möchte. Nämlich als kreativer Mensch, als Freigeist, verheiratet, aber als schwuler Mann und als Dandy. Solche Figuren, obwohl er schon 122 Jahre tot ist, solche Figuren sind der Gesellschaft heute noch suspekt. Da hat sich überhaupt nichts geändert. Da können wir auch gendern und mit LGBTQ alles in Wörter packen, es hat sich nichts geändert. Und wenn ich mich tiefer in der Gesellschaft aufhalten würde als in meinem Umfeld, mit einem gewissen Wohlstand und so wie ich lebe, bin ich mit Sicherheit für viele Menschen auf dieser Welt auch noch ein Feindbild. Wenn man sich überlegt, in wie vielen Ländern man für Homosexualität heute noch ins Gefängnis kommt oder sogar getötet oder gesteinigt wird, dann ist diese Biografie hochaktuell. Und eigentlich sind wir noch gar nicht so weit, wie wir eigentlich sein sollten. Das ist hoffentlich etwas, was in so einer Biografie, in solchen Bildern, in so einem Stück herauskommt. Ich habe diesen langen Kuss zwischen zwei Männern, mal sehen, wem der unangenehm ist. Damit will ich sagen, dass wir gar nicht so tun müssen heute, als wäre das alles so selbstverständlich. Vielleicht hier in unserem begrenzten Raum. Aber wenn wir zwei Flugstunden weiter fliegen, sieht die Welt schon ganz anders aus und da bezieht jemand wie ich wirklich ganz leicht Prügel.
Wie finden Sie zu der Musik für Ihre Choreografien und nach welchen Kriterien sind Sie an die Musikauswahl für„A Wilde Story” gegangen?
Ich bin nicht der größte Musikfan, außer ich höre so meine Sachen zu Hause, aber ich bin kein Forscher der Musik. Für mich ist ein anderes Gefühl erst mal ausschlaggebend. Da habe ich schon Leute, die mir auch zuarbeiten, die mir das schicken. Und manchmal höre ich mir, sagen wir mal von einem Musikstück von zehn oder fünfzehn Minuten, nur den Anfang, die ersten zwei Minuten an und sage dann Ja. Und später, wenn ich die Musik dann im Studio ganz höre, kriege ich die Krise, weil ich die Musik so ätzend finde, zu der ich ja eigentlich Ja gesagt habe. Die Leute setzen voraus, dass ich mir dass Stunde um Stunde anhöre. Interessiert mich aber nicht.
Es gibt auch Stücke, in denen ich viel meiner Popmusik oder Rockmusik benutze, die mich mein Leben lang begleitet hat, weil mir das näher ist.
Wie zum Beispiel Tori Amos in „The Big Crying“.
Ja, Tori Amos zuletzt, das ist jetzt schon so lange her, dass ich das gehört habe, dass ich dachte, das kann man benutzen, das ist schon ein Klassiker. Also wenn ich in den Neunzigern ein Stück gemacht hätte, hätte ich sicherlich nicht Tori Amos benutzt. Aber jetzt ist da so ein Zeitsprung, dass ich dachte, das kann ich ja mal probieren. Ich fand es spannend. Die sind ja schon fünfundzwanzig Jahre alt diese Lieder. Und dann kommt der Moment im Studio, wo ich die ganze Suppe hören oder dazu choreografieren muss. In dem Moment, wo mir etwas aber nicht gefällt an der Musik, entsteht dann eine Spannung, mit der ich umgehen muss. Ich muss die Musik bezwingen, oder ich muss sie in ihre Schranken weisen, in ganz simplen Szenen. Oder ich muss sie einfach laufen lassen, weil sie so gewaltig ist, dass man dazu nichts mehr machen kann. Also das ist eine spannende Angelegenheit. Aber das läuft nicht zu Hause ab, wo ich stundenlange vorher auseinander klamüsere, was man dazu machen könnte.
Auch bei Bühnenbildern mache ich das oft, dass ich den Bühnenbildnern gar nicht richtig zuhöre. Ich brauche hinterher auf der Bühne irgendeinen Reibungspunkt, wo etwas nicht klappt. Nur aus dem Nichts, kann es nicht klappen. So etwas gibt es nicht. Wenn man ein Stück macht, braucht es Mangel und Widerstand, um überhaupt irgendetwas daraus zu machen. Wenn das Bühnenbild plötzlich eine Stufe hat, wo ich nicht zugehört hab und dann zu dem Bühnenbildner sage: Sag mal, warum ist denn da eine Stufe? Aber dann habe ich da nun eine Stufe und dann könnte ich zum Beispiel alle ganz klein auf diese Stufe setzen. Da hat man wieder ein Bild. Aber das Bild entsteht nur aus Problemen. Ein Stück zu machen ist ein riesiges Problem, was man aus der Welt schaffen muss.
Im Probensaal haben Sie sehr intensiv an einer Szene mit einem kollektiven Schrei gearbeitet. Es wurden viele Variationen dieser Szene durchgespielt und irgendwann hatten sie dann den Eindruck: Das ist es.
Ja, jetzt für den Moment.
Wann wissen Sie, dass eine Szene gut ist, dass nichts mehr verändert, hinzugefügt oder weggelassen werden sollte?
Das gibt es vielleicht gar nicht. Also jetzt bin ich ja in einer Art Wahnzustand. Das heißt aber auch, mein Gefühl wird mich jetzt in die Irre leiten und mir irgendwie sagen: Das stimmt, weil ich muss. Das Gefühl muss mir jetzt sagen, es stimmt, je länger ich daran herumbastele. Das heißt aber nicht, wenn ich das in einem halben Jahr sehe, dass das Gefühl noch da sein wird. Dann würde ich daran zweifeln, was mir mein Gefühl da gesagt hat. Nicht immer, aber so hart bin ich zu mir selbst, meistens. Und ein halbes Jahr später, wenn ich dann so ein Stück gucke, dann siebe ich nur noch aus, was mich wirklich interessiert. Und dann ist das nicht viel. Dann sind das ein, zwei Szenen oder ein, zwei Geschichten, wo ich sage, die interessieren mich. Aber damit muss ich leben. Und ich muss so großzügig sein, auch zu denken, das gehört anderen. Das hat mit mir nicht mehr viel zu tun. Also diese Tage, jetzt, diese zweieinhalb Tage noch, das ist in einem völligen Wahn, mit einem Instinkt wie ein Hund. Ich habe eine Fährte und da gibt es nichts rationales. Ich wusste irgendwann, dass diese Schreie zu viel sind. Manchmal reicht einer. Manchmal möchte man so viel, dann macht man zehn, weil man denkt, dass ist interessant, aber in dem Moment, wo man es tut, weiß man auch schon, das ist es nicht. Also, das ist schon eine Sache, die ich ganz genau schneiden muss. Wo ich auch streng zu mir sein muss, dass das nicht ausufert in irgendeinen Quatsch.
Sie haben gerade den Deutschen Tanzpreis 2022 bekommen, im letzten Jahr erhielten sie die Auszeichnung „Choreograf des Jahres“ von der Fachzeitschrift tanz. Wie fühlt sich das an?
Bei Pina Bausch sind es zwei DIN A4 Seiten Preise und Ehrungen und darunter steht - Nur ein Auszug. Sonst wären es vielleicht vier DIN A4 Seiten gewesen. So viel ist es bei mir noch nicht, aber sicher ist das schön. Es hat aber auch seinen Preis. Ich glaube nicht, dass die meisten Leute wissen, was es heißt, ein Stück zu machen. Da bin ich mir sicher, das können die Leute nicht nachvollziehen. Ich habe mal zu meiner Mutter gesagt, ich hatte heute den ganzen Tag Probe. Dann sagte sie: Ja, wofür denn Probe? Das Stück ist doch noch gar nicht fertig. Dann habe ich gesagt: Mama, was denkst du eigentlich, was ich den ganzen Tag mache? Was denkst du was das ist, wenn du da sitzt und dir das anguckst, woher das kommt. Ich glaube viele wissen das gar nicht. Jede Sekunde muss ich etwas machen um so ein Stück zu machen. Ich glaube nicht, dass der Zuschauer am Schluss weiß, was das gekostet hat. Ich glaube auch, das wenige wissen, was so Preise oder was die Anerkennung und der Erfolg, gekostet haben - körperlich, psychisch, arbeitstechnisch, sorgentechnisch, angsttechnisch, drucktechnisch. Das ist kein Waldspaziergang, wenn man das auf einem gewissen Niveau machen möchte.
"The whole world waits that I fail.“ Während der Probe im Ballettsaal äußerten Sie diesen Satz.
Ich glaube nicht an das Gute im Menschen, überhaupt nicht. Die Menschen sind abartig böse, die Nachrichten zeigen uns das jeden Tag. Gut, das war vielleicht ein bisschen übertrieben. Es gibt auch Leute, die mir Gutes wünschen, aber wenn man auf so einem Level arbeitet, wo ich arbeite, gibt es auch die Faszination, Leute wie mich versagen zu sehen. Ich will gar nicht sagen, dass man es mir wünscht. Aber das war auch so bei Nurejew, der konnte unglaublich sein, aber der konnte auch mal schwächeln, die Callas auch. In dieser Spannung ist Perfektion ja das Langweiligste eigentlich. Es geht, wenn ich hier von Versagen spreche, auch nur um emotionales Versagen, nicht um mein Handwerk. Da glaube ich nicht, dass das oder meine Sprache versagt. Aber die Emotion, etwas was du nicht beeinflussen kannst. Mir wäre es lieber, die Leute fühlen auch Wut oder irgendetwas. Versagen heißt, wenn da nichts ist, wenn das nur Dekoration ist oder wenn das nur Selbstbefriedigung für mich ist. Das ist Versagen. Aber wenn es etwas umarmt, was Gefühle angeht bei den Menschen, die es sehen, dann ist das kein Versagen. Das ist eine große Nummer und das muss man sich trauen. Jedes Mal wieder, an jedem Stück. Da bin ich ganz schön ehrfürchtig vor und beneide mich nicht darum, dass ich das immer wieder tue.
Interview und alle Fotos: Ingo Schäfer
Marco Goecke
Seit langem gilt Marco Goecke in der internationalen Tanzwelt als einer der wichtigsten und gefragtesten zeitgenössischen Choreografen. Mit seiner einzigartigen energiegeladenen Tanzsprache erforscht er das Bewegungsspektrum des menschlichen Körpers. Seine Choreografien sind emotional, nachdenklich und dabei ist er immer ganz nah am Menschen. In seinen Bildern, oft geprägt von einer düsteren Atmosphäre, weiß er den Zuschauer tief in seinem Innern zu berühren. Die menschliche Psyche und seine Abgründe, der ewige Spagat zwischen Verzweiflung und Hoffnung, sind die Themen die sich durch sein umfangreiches und vielfältiges Gesamtwerk ziehen.
Als langjähriger Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts und des Scapino Balletts, Associate Choreographer am Nederlands Dans Theater in Den Haag, Artist in Residence bei Gauthier Dance und seit 2019 als Chefchoreograf und Ballettdirektor des Staatsballetts Hannover, schuf Marco Goecke in zwanzig Jahren mehr als 80 Choreografien, die international von bedeutenden Compagnien aufgeführt werden. Er schuf unter anderem Werke für das Staatsballett Berlin, das Hamburger Ballett, das Leipziger Ballett, das Nederlands Dans Theater, das Norwegische Nationalballett, Les Ballets de Monte-Carlo, das Pacific Northwest Ballet Seattle, die Sao Paulo Companhia de Dança, das Wiener Staatsballett und das Ballett Zürich.
Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen erhielt Marco Goecke im Mai diesen Jahres die bedeutendste nationale Auszeichnung, den Deutschen Tanzpreis 2022.