Im Sinne des programmatischen roten Fadens hat Ballettchef Manuel Legris drei junge Tanzschöpfer gewählt, die – ebenfalls mehr oder weniger – mit dem europäischen Pionier des modernen Tanzes, Jiri Kylián in Verbindung stehen. Dieser brachte bekanntlich mit seinem Nederlands Dans Teater seit Mitte der 1970er eine nachhaltige stilistische Trendwende. Er ersetzte die klassischen Ballettfiguren mit ihren drei Phasen, Präparation, Ausführung und Schlusspose, durch eine Tanzsprache, bei der Bewegungen musikalisch, harmonisch und übergangslos ineinanderfließen. Dadurch wurde der Tanz wesentlich dynamischer, ermöglichte neue Ausdrucksformen und Zugänge zur Musik. Kylián selbst hat seinen Stil in über 100 Werken erprobt und vertieft und sich dabei immer wieder neu orientiert und weiter entwickelt.
Gerade das Stück, das nun beim Wiener Staatsballett neu ins Repertoire gelangte, ist ein Schlüsselwerke für eine derartige neue choreografische Fragestellung in seinem Œuvre. „Bella Figura“ aus dem Jahr 1995 ist nicht mehr vom typisch Kyliánschen Bewegungsfluss geprägt. Viel eher scheint er in diesem Werk die Bewegungen zu „sezieren“, um zum emotionalen Kern vorzudringen. Ebenso wird die Bühne immer wieder neu definiert. Vorhänge, teils halb gesenkt oder halb geöffnet, zwingen den Blick immer wieder auf Ausschnitte, auf der sich die Handlungen konzentrieren. Die Soli, Duos und Trios sind oft von einem abrupten und nervösen Bewegungsgestus gekennzeichnet, Zustände wie Spannung, Konflikte, Erotik und Zärtlichkeit bestimmen den Grundton. Der Unterschied zwischen weiblich und männlich verschwimmt. Künstlichkeit (in Form von Wachsfiguren, die in gläsernen Särgen über der Bühne hängen), Kunst und Natürlichkeit, Realität und Fantasie treffen aufeinander. Und trotz aller Gegensätze entfaltet sich im Laufe des Stückes eine meditativ-harmonische Grundstimmung, als wäre man in einem Traum.
Höhepunkt des Balletts ist eine Duo zwischen zwei unbekleideten Frauen, die einander ohne Berührung in Bewegung versetzen und dabei ihre ganze Verletzlichkeit und Zartheit präsentieren (hinreißend-berührend: Ketevan Papava und Marie-Claire D’Lyse). Danach erscheint auf der Bühne eine Schale mit Flammen - vielleicht ist es Prometheus’ Gabe als Metapher für die menschliche Gefühlswelt, die sich zu den langsamen Sätzen barocker Musikstücke in seltsam-wahrhafter Schönheit offenbart. Die fünf Tänzerinnen und vier Tänzer des Wiener Staatsballetts begegnen diesem Werk mit großer Integrität und bringen es zur besten Wirkung.
Eine skurrile Ästhetik vertritt das Choreografen Team Paul Lightfoot und Sol León. Als ehemalige TänzerInnen beim Nederlands Dans Teater sind sie daher Meister Kylián am nächsten. Auch wenn ihre Tanzsprache sehr eigenständig ist, so ist es die konsequente Umsetzung ihres Bewegungswitzes, der die Verwandtschaft erkennen lässt. „Skew-Whiff“ ist ein lustig-lustvoller Tanzsketch zu Rossinis Ouverture „Die diebische Elster“. Ioanna Avraam, Mihail Sosnovschi, Denys Cherevychko und Masayu Kimoto interpretieren die vier Charaktere zwischen Tier und allzu Menschlichem spritzig, pointiert und virtuos und erobern die Herzen des Publikums im Sturm.
Die Verbindung von Jiri Bubenicek zu Jiri Kylian ist nicht künstlerisch, sondern durch den gemeinsamen Vornamen und die Herkunft – beide stammen aus Tschechien – gegeben. Der ehemalige Solist des Hamburger Balletts und jetziger Solist des Dresdner Balletts hat „Le souffle de l’Esprit“ zu Musik von Bach, Hofstetter, Pachelbel und seines Zwillingsbruders Otto (der auch für Kostüme und Bühnenbild verantwortlich zeichnet) 2007 für das Zürcher Ballett geschaffen und gab nun mit dieser leichtfüßigen, wenn auch konventionellen Choreografie seinen Einstand in Wien. Das Stück ist eine Hommage an die neoklassische Tanzkunst. Kostüme, das Bühnenbild mit Ausschnitten von da Vinci Gemälden und Zeichnungen und der Tanz bilden eine geschlossene Einheit, auch wenn Bubenicek erst seine eigene Tanzsprache finden muss. Diese blitzt im choreografischen Höhepunkt allerdings sehr stark auf: bei einem Männertrio im letzten Teil des Stückes, glänzend getanzt von Roman Lazik, Denys Cherevychko und Masayu Kimoto, befreit sich Bubenicek von formalen Zwängen und lässt seinem Bewegungsdrang freien Lauf.
Insgesamt waren alle Stücke, auch die Wiederaufnahme von Jorma Elos zweiteiliger Choreografie zu Musik von Mozart und Philip Glass „Glow – Stop“ (uraufgeführt 2008 in der Wiener Staatsoper) hervorragend interpretiert und bestätigten das Wiener Staatsballett als eine starke Truppe, die Schönheit in ihren vielfältigen Formen zu interpretieren weiß.