George Balanchine (1904-1983) fand in den USA einen fruchtbaren Boden für seine vom Narrativen befreiten Ballette, in denen die klassische Formensprache ganz auf die Musik konzentriert ist. Balanchine ist ein „gnadenloser" Choreograf, seine Tänze verlangen absolute Präzision, denn in den rasanten Arrangements der Variationen ist kaum Platz zum „Schummeln". Nicht umsonst sind seine Werke ein Gradmesser für die Qualität klassischer Compagnien. Um es gleich vorwegzunehmen: Das Wiener Staatsballett hat die Tänzer und Tänzerinnen, denen man Balanchine getrost zumuten kann.
Als Manuel Legris seine Direktionszeit beim Wiener Staatsballett mit zwei Balanchine-Werken (und einem Forsythe-Stück) eröffnet hat, war das sehr mutig. Doch das Kalkül ist blendend aufgegangen und nun setzt der Ballettchef in seiner zweiten Saison noch eins drauf: „Stravinsky Violin Concerto" ist ein Spätwerk des russisch-amerikanischen Choreografen, in dem er die zukünftige Entwicklungen des klassischen Tanzes bereits vorwegnimmt (wie sie eben von William Forsythe betrieben wurden).
Im „Stravinsky Violin Concerto" aus dem Jahr 1976 lässt Balanchine den akademischen Tanz weitgehend hinter sich, und fordert die Tänzerkörper in neuen Bewegungsmustern zu akrobatischen Höchstleistungen heraus. Die „Kostüme" – schwarze Trikots für die Frauen, schwarz-weiße für die Herren – sind für Balanchine ebenfalls untypisch, betonen aber die Asymetrie des Tanzes, die er in diesem Ballett anwendet. Im Mittelpunkt stehen zwei Paare, die immer wieder in scheinbar ausweglosen Verschränkungen miteinander verknüpft sind, in denen die Tänzerinnen ihre Torsi und Gliedmaßen in Extrempositionen biegen, und mit Hilfe ihres Partners immer wieder elegant aus den Umwindungen heraus finden. Das ist der Balanchine, der William Forsythe bei der Entwicklung seiner Tanzsprache in den 1980er und 90er Jahren inspirierte.
Die beiden Pas de deux sind durchaus unterschiedlich in der Beziehung der Partner zueinander. Spannung liegt im Tanz des erste Solopaar (Olga Esina und Roman Lazik), in dem sich die Tänzerin immer wieder versucht, von ihrem Partner abzugrenzen, während das zweite Duo (Nina Poláková und Mihail Sosnovschi) von der Manipulation der Tänzerin durch den Partner gekennzeichnet wird. Im letzten Satz löst Balanchine diese Tour de Force mit humoristischen und folkloristischen Anklängen auf.
Das Wiener Staatsballett – die SolistInnen wie das Ensemble - tanzte in diesem Stück tadellos und zeigte sich den technischen Herausforderungen durchaus gewachsen, auch wenn es noch nicht so selbstverständlich und animiert über die Bühne ging wie die anderen drei Stücken aus dem Repertoire er Compagnie, bei denen der Esprit hell strahlte.
Die zwölf glitzernden, funkelnden Variationen zum 4. Satz von Tschaikowskis Orchestersuite Nr. 3 sind eine Hommage an die russische Schule des klassischen Tanzes und ein Showpiece für gediegene Ensemblearbeit und brillante Solisten, in diesem Fall Liudmila Konovalova und Denys Cherevychko, der auch diesmal wieder mit seine präzise Technik einsetzte, als wäre sie ihm in die Wiege gelegt worden.
Neben Balanchine stand an diesem Abend, mit dem sich das Wiener Staatsballett aus der Sommerpause zurückmeldete, der andere große Choreograf des New York City Ballet, Jerome Robbins, auf dem Programm. Perfekt besetzt sind die Paare in „In the Night", einem Ballett im neoklassischen Stil für drei Paare zu Chopins „Nocturnes": Natalie Kusch ist ganz die leichtfüßige, in ihren Partner (Andrey Teterin) romantisch Verliebte. Olga Esina und Roman Lazik sind ein edles Paar, deren Beziehung formelleren Riten unterliegt, und Irina Tsymbal rührt als streitbar-feurige Partnerin von Vladimir Shishov temperamentvoll das verträumte Geschehen auf.
In seinen „Glass Pieces" hat sich Robbins von Tanz-Avantgardisten wie Lucinda Childs inspirieren lassen, die ihre Tanzsprache aus Alltagsbewegungen entwickelten. Auch „Glass Pieces" beginnt mit einer Sequenz, in der die Tänzer einfach gehend die Bühne überqueren. Doch das einfache Gehen fällt ihnen, die Virtuosität verkörpern, sichtlich schwer. Da wird gestakst, geschritten und gehudelt, aber entspannt schaut dabei kaum eine(r) aus. Aber das ist ja nur der Anfang. Danach folgen zur pulsierenden Musik von Philip Glass eine Reihe von spannenden Duetten und Gruppensequenzen, bei denen das Ensemble wieder ganz in seinem tänzerischen Element ist, allen voran Maria Yakovleva und Kirill Kourlaev im Pas-de-deux des zweiten Teils.
Ebenso inspiriert wie die Tänzer auf der Bühne agierten, spielte das Orchester unter der Leitung von Peter Ernst Lassen sowie die Solisten Igor Zapravdin (Klavier) und Rainer Honeck (Violine) in diesem abwechslungsreichen und klug zusammengestellten Programm.
"Balanchine & Robbins" am 23. September 2011 in der Wiener Staatsoper
Weitere Vorstellungen: 26., 30. September, 8. Oktober 2011; 7., 10., 16. März 2012