Auf blutrotem Samtboden lässt der schwedische Choreograf Jefta van Dinther in „Protagonist“ eine schwermütige Clubbing-Dystopie erblühen. 13 Tänzer und Tänzerinnen des Cullberg Ballet feiern bei Musik des schwedischen Popstars Elias Sahlin im Tanzquartier Wien eine implodierende Revolution und eine Rückkehr zum Primatentum. Das elegische Timbre von Elias lässt dabei Endzeitvisionen aufkommen, wenn er von schlaflosen Nächten, von Stimmen im Kopf erzählt, die langsam das Kommando übernehmen.
Drängende Sehnsucht ins Leere. Elias Sahlin beschreibt einen schizophrenen Zustand, in dem man sich gleichermaßen von etwas abgestoßen, wie unwiderstehlich angezogen fühlt. Die Männer und Frauen, die van Dinthers tänzerisches Universum bevölkern, scheinen sich also durch eine gallertartige, schwer durchdringliche Masse zu bewegen. Wild greifen sie mit den Händen nach ihrem Gegenüber und stoßen dabei mit ihrer drängenden Sehnsucht doch immer ins Leere. Sie versuchen, einander zu berühren, aber ihre Begegnungen bleiben unerwidert oder geraten zum Kampf. Nähern sie sich aneinander an, drohen sie einander zu verschlucken, ihre Körper wachsen mit verschlingender Dringlichkeit zusammen und zärtliche Gesten werden zu einem klebrigen Gefängnis, wo jeder nur sich selbst zu befriedigen sucht.
In dieser Welt ist jeder einzelne ein Protagonist - ein einsamer, dem Sturz geweihter Vorkämpfer, ein Pionier des Untergangs, in einem albtraumhaften Sog gefangen. Lichtdesignerin Minna Tikkainen zeichnet, wie in früheren Arbeiten von Jefta van Dinther, verstörende Stimmungen in den Raum. Sie tränkt mit satten Abstufungen zwischen Rot und Schwarz die Szenerie, legt ein bedrohlich dichtes und düsteres Farbenspektrum über die Atmosphäre.
Erstickender Ruf nach einer Revolution. Wenn Elias Sahlins Song „Revolution“ erklingt, reckt das Cullberg-Ensemble die Fäuste in wütender Agitation, aber es ist mehr ein letztes Aufbäumen vor dem Unvermeidlichen als ein Kampfschrei, der noch Fesseln sprengen will. Schließlich intonieren die Tänzer und Tänzerinnen chorisch „Lets start a Revolution“ bis zu einer implodierenden Verzückung und einem intensiven Blick ins Publikum. Das aber klebt von der verzweifelten, bleiernen, klagenden Schwere dieses Revolutionsaufrufs am Sessel.
Im zweiten Teil mutieren die von zersetzender Schwermut geplagten Menschenwesen sukzessive zu Affen, deren Gemüt die Gnade der Einfalt geleckt hat. Grünlich, morastiges Licht legt sich über die Erde, gebückte, o-beinige Wesen bevölkern die Steppe. Schon lüftet einer sein Hinterteil, entledigt sich lästiger Kleidung, ein anderer streift die Oberbekleidung vom Rumpf, schleift das im Augenblick sogleich vergessene Anhängsel am Arm hinter sich her. Das Metall-Gestänge am Bühnenhintergrund wird zum Ast, auf dem man in zufriedener Anspruchslosigkeit abhängen und baumeln kann. Mehr braucht es nicht, zur äffischen Glückseligkeit, von der der Mensch, das stets suchende Wesen, sich ins Reich des Zweifelns verabschiedet hat. Von dort ist es zum Abgrund der Verzweiflung nur ein Schritt.
Jefta van Dinthers Dystopie in „Protagonist“ zeigt eine Zukunft, in der Rufe nach einer Revolution des Geistes zum eskapistischen Rausch- und Clubbing-Experiment einer längst ausgehölten Partygeneration mutiert sind. Die Evolution hier umzukehren und den Geist des äffischen Seeleneinklangs wiederzuerlangen mag verlockend sein, doch als Lösung taugt es dann doch wenig.
Jefta van Dinther/Cullberg Ballet: „Protagonist“ am 30. April 2017 im Tanzquartier Wien