Mut ist den überaus geschätzten Tänzern des Wiener Staatsballetts bei der Wahl ihrer Choreografieaufträge für den Strawinski-Abend an der Volksoper nicht abzusprechen. Wählte Eno Peci „Petruschka“, so wagte sich Andrey Kaydanovskiy an den „Feuervogel“. Nur András Lukács verzichtete in „Movements to Stravinsky“ auf derart prominente Vorlagen und arrangierte sein Ballett zu Teilen aus vier Werken des Komponisten.
Sowohl musikalisch als auch tänzerisch bewies András Lukács feines Gespür. „Movements to Strawinsky“ fließt in seiner schwarz-weiß-Ästhetik (auch das Bühnenbild und die edlen Kostüme stammen vom Choreografen) elegant über die Bühne. Lukács hat die "harmonischen" Sätze aus der Pulcinella-Suite und der Suite Italienne sowie aus "Apollon Musagète" und "Les Cinq Doigts" zu einem musikalisch stimmigen Bogen zusammengestellt. Tänzerisch arbeitet der Choreograf immer wieder mit schwarzen Vorhängen um den Raum in verschiedene Aktionsebenen zu teilen. Die Bewegungen sind eine Mischung aus klassischem und neoklassischem Stil, der die Biegsamkeit der Tänzerinnen und Tänzer fordert, aber nicht überfordert. Eine raffinierte Komposition aus Soli, Duos und Gruppensequenzen, der man anmerkt, dass der gebürtige Ungar auf diesem Gebiet schon einiges an Erfahrung, auch mit dem Wiener Staatsballett, gesammelt hat.
Strawinskis Ballette sind ikonische Werke. Jeder Choreograf muss sich wohl im Laufe seiner Laufbahn „drübertrauen“. Dabei übersehen die Tanzschöpfer sehr oft, dass die Bilder der Originalchoreografien als Teil der kulturellen Erinnerung in unser Gedächtnis quasi eingebrannt sind. Es geht also gar nicht anders, als Neuinterpretationen mit den Originalen von Fokine oder den Nijinskys zu vergleichen. Und damit haben junge Choreografen eine schlechte Ausgangsposition. Auch Eno Peci und Andrej Kaydanovskiy erwiesen sich mit der Wahl von "Petruschka" und "Feuervogel", die am Anfang und Ende des Dreiteilers stehen, einen Bärendienst.
Spielte Fokines „Petruschka“ auf einem Marktplatz, so verlegte Eno Peci sein Ballett in eine Schule. Die Schulbänke und Uniformen (Ausstattung sowie Dramaturgie: Pavol Juras) sind wohl von Filmen aus dem frühen 20. Jahrhundert inspiriert. Petruschka ist bei Peci ein überforderter Lehrer (Davide Dato), die Prinzessin des Originals ist seine Frau (Nina Tonoli) und der Mohr seine Schuldirektorin (Rebecca Horner), die ihn ebenso wie seine Schüler fertig machen will. Während man die Lust der Schüler ihren Lehrer zu gängeln noch versteht, bleibt die Motivation der Direktorin unklar. Ein Borderline-Case? Eine mögliche Auswirkung der derzeit heiß diskutierten Schulautonomie? Oder ist sie vielleicht doch hinter der Frau des Lehrers her, die am Ende mit ihrem Sohn in die Schule kommt? Touchant, wenn das Kind (Raphael Grotrian von der Ballettakademie der Wiener Staatsoper) das vom Vater an der Tafel angefangene Wort „Lie“ mit „be“ ergänzt und damit auch die Möglichkeit für einen neuen Petruschka eröffnet. Choreografisch vertritt Peci einen modern-neoklassischen Stil, sehr dynamisch, teilweise hektisch. Ständig sind seine Akteure in athletischer Bewegung - stellenweise ein bisschen zuviel der hohen Beine, Sprünge und rasanten Drehungen.
Auch Andrej Kaydanovskiy hat sich mit seinem Handlungsstrang selbst ein „Haxl“ gestellt. Viel zu kompliziert sind die Zusammenhänge in diesem kurzen Ballett geworden, das nun in einem Kaufhaus spielt. Die Ausstattung und die Kostüme verweisen aber nicht auf jenen Konsumtempel, von dem im Programmheft die Rede ist. Vielmehr erinnert das Ambiente an einen Laden aus der Sowjetzeit (Bühnenbild und Kostüme: Karoline Hogl) – dass die Handlung in Russland spielt verraten die kyrillischen Aufschriften. Kaydanovskiy versucht seinen Tanz in eine zeitgenössische Richtung zu entwickeln und findet immer wieder interessante Ansätze. Allerdings ist ihm dabei die Erzählung der Handlung im Wege. Höhepunkt dieses Balletts ist der Pas de deux mit Masayu Kimoto (Ivan) und Rebecca Horner, die als blinde Vasilissa mit ihren verzerrt-verzögerten Bewegungen zu berühren weiß. Dämonisch tanzt Davide Dato den Feuervogel, der Ivans Metamorphose vom Flugzettelverteiler zum Firmenchef initiiert und begleitet. Der ursprüngliche Boss wird von Charaktertänzer Michail Sosnovschi mit schnöder Arroganz und Härte – very russian – verkörpert.
Die großartigen Tänzer unterstützten ihre Kollegen an diesem Abend mit viel Engagement. Im Orchestergraben spielt das Volksopernorchester unter der Leitung David Levi bei „Petruschka“ noch etwas zu beherzt (sprich: laut). Beim Melodienreigen zu „Movements to Strawinsky“ kam die lyrische Seite des Komponisten jedoch wunderbar zum Ausdruck. Diese Klangbalance behielt das Orchester auch beim „Feuervogel“ bei.
Wiener Staatsballett: „Der Feuervogel | Petruschka | Movements to Stravinsky“. Premiere am 28. April 2017 in der Volksoper Wien. Weiter Vorstellungen am 2., 11., 16., 21., 23. und 28. Mai, 2. und 7. Juni 2017