Olga Smirnova, Primaballerina des Moskauer Bolshoi Ballett, gab ihr Debut an der Wiener Staatsoper mit einer exquisiten Darbietung von Odette / Odile in Rudolf Nurejews Inszenierung von „Schwanensee“. Ihr Partner Semyon Chudin, ebenfalls vom Bolshoi, ergänzte die Rolle des Siegfried mit Details, die diese Figur in einem neuen Licht erscheinen ließen.
Mit Auftritten als Basil in „Don Quixote“ (Juni 2016) und bei der Nurejew-Gala 2015 hat Semyon Chudin seine Talentproben in Wien bereits absolviert. Nun gab er sein Rollendebut am Haus als Prinz Siegfried. Von Anfang an ist dieser scheue Prinz, der Bücher mehr liebt als Waffen, ein armes Würstel. Chudin macht deutlicher als mancher seiner Kollegen, dass er mit der Armbrust, die ihm seine Mutter zum Geburtstag geschenkt hat, durchaus keine ungeteilte Freude hat. In einem stummen Monolog taxiert er sie, als sein Freund Benno sie ihm für die Jagd in die Hand drückt. Überzeugung sieht anders aus. Wie wir wissen, wird er die Waffe auch nicht benützen, denn da begegnet ihm die verzauberte Prinzessin Odette in Form eines Schwanes. Nachdem seine Gefährten (sehr sauber Jakob Feyferlik und James Stephens in ihren Rollendebuts mit Nina Tonoli und Natascha Mair) ihn verlassen haben, tanzt er ein melancholisch-lyrisches Solo. Da hat Chudin seine kleinen anfänglichen Unsicherheiten bereits überwunden und überzeugt mit exakter Artikulation und schönem Ballon.
Mit ihrem Auftritt zieht Olga Smirnova das Publikum sofort in ihren Bann. Das 26-jährige Ausnahmetalent (ausgezeichnet unter anderen mit dem Prix de Benois und dem Positano Premia la Danza – Léonide Massine) hat den idealen Ballettkörper, lang- und feingliedrig, mit langem Hals und einer extrem biegsamen Wirbelsäule, und sie setzt ihn für diese Rolle einfach perfekt ein. Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine derart leichte Interpretation der Schwanenprinzessin gesehen zu haben. Mehr Schwan als Frau scheint sie über den Boden zu schweben, kein Ton ist beim Aufsetzen des Spitzenschuhs zu hören. Den Pas de deux intoniert Paul Connelly am Dirigentenpult mit extremer Langsamkeit, die die Ballerina mit Bewegungen in Zeitlupe füllt. Allein der Moment, wenn sie rückwärts in die Arme ihres Partners gleitet, scheint unendlich zu sein – das ist verkörperte Poesie.
Im dritten Akt umgarnt sie als Odile den verwirrten Prinzen mit subtiler Verführungskunst. Gelassen dreht sie ihre Fouettés, scheint sich ihrer Sache in jedem Augenblick gewiss. Bei aller Anmache bleibt sie auf eleganter Distanz und wird, nachdem ihr Werk vollbracht ist, und Siegfried mit seinem Treueschwur Odette verrät, zur hämischen Megäre.
Odette ist mittlerweile todtraurig und resignativ inmitten ihrer Freundinnen zusammengebrochen. Siegfried, der Odile völlig ausgeliefert war, wird angesichts des Dramas aktiv und sucht Odette am See. Semyon Chudin bringt diese Wandlung, ebenso wie seine Verzweiflung, deutlich zum Ausdruck. Mit unglaublicher Zartheit vergibt ihm Odette und kann ihn doch nicht vor dem Untergang retten. Denn der böse Zauberer Rotbart sucht Rache an dem, der die Prinzessin aus seinen Klauen erlösen wollte. Eno Peci kämpft mit wilder Entschlossenheit um seine Macht.
Eine Reihe weiterer Rollendebuts gab es bei den Charaktertänzen des dritten Aktes: Dimitru Taran (mit Anita Manolova) als neapolitanische Tänzer, Iliana Chivarova (mit Alexandru Tcacenco) als polnische Tänzer sowie Nikisha Fogo und Géraud Wielick in den Ungarischen Tänzen. Sie alle, wie das gesamte Ensemble des Wiener Staatsballetts und das Orchester der Wiener Staatsoper glänzten an diesem Abend ganz besonders. Jubelnder Applaus!
Wiener Staatsaballett „Schwanensee“ am 14. Mai in der Wiener Staatsoper. Eine weitere Vorstellung mit Olga Smirnova und Semyon Chudin gibt es am 17. Mai. Weitere Vorstellungen mit wechselnden Besetzungen am 18., 22., 25. Und 29. Mai sowie am 1., 4., 8. und 12. Juni 2017.