Die Uraufführung von „Peter Pan“ markiert eine Sternstunde für das Wiener (Staat-)Ballett. Vesna Orlić und ihrem Kreativ-Team, dem Ballettensemble, dem Kinderchor und dem Orchester der Volksoper ist ein Meisterwerk gelungen: ein Märchen mit subtilem Witz gewürzt und von ausdrucksstarken und grenzenlos motivierten Tänzerinnen und Tänzern „erzählt“.
Die Geschichte des schottischen Schriftstellers James Matthew Barrie über den Jungen, der nie erwachsen wurde, ist immer wieder Inspiration für Bühnen- und Filminszenierungen. Vesna Orlić nützte diese Verbindung für ihr Ballett, und holte sich Andreas Ivancsics mit ins Boot. Dessen Videos bilden einerseits die bewegte Kulisse für die Live-Flüge von Peter Pan und seinen Freunden, oder führen sie in Animationen in schwindelnde Höhen fort. Wie im Kino gibt es einen Vorspann mit den Credits aller Beteiligten.
Ebenso durchgängig ist der Erzählstrang des Balletts (Dramaturgie: Monica Rusu). Peter Pan verliert seinen Schatten (Robert Weithas) und findet ihn im Schlafzimmer von Wendy, John und Michael wieder. Die drei Kinder hatten gerade mit ihrem Kindermädchen Abenteuer von Peter Pan gespielt, bevor die gestrengen Eltern ihnen Bettruhe verordneten. Nun also ist der Held ihrer Fantasien und die Fee Tinker Bell leibhaftig in ihrem Zimmer und nimmt sie mit auf den Flug in seine Heimat Nimmerland. An Seilen schweben sie in luftigen Höhen zur Insel, umkreisen Big Ben und entkommen nur knapp einer Kanonenkugel. Dort lernen sie die Verlorenen Kinder kennen, sind bei den Indianern auf Besuch, erleben Captain Hook und seine Piraten und erobern deren Piratenschiff für die Rückkehr nach London – wobei natürlich das Krokodil hilft, das just in dem Moment erscheint. Es hat nämlich seinerzeit beim Chefpiraten größten Respekt verschafft, als es dessen Hand abgebissen hat. Da es auch einmal einen Wecker verschluckt hat, kündigt sich sein Kommen immer durch ein lautes, ominöses Ticken an …
Cineastische Musikdramaturgie
Auch die großartige Musikauswahl (Vesna Orlić und Gerald Stocker) ist nach cineastischen Gesichtspunkten ausgewählt und bietet ein weitgehend vergessenes (oder verdrängtes?) Stück österreichischer Musikgeschichte. Den Hauptteil der musikalischen Collage bilden Kompositionen der Exil-Österreicher Erich Wolfgang Korngold und Max Steiner, die zu den erfolgreichsten Pionieren der Filmmusik in Hollywood gehörten. Stücke von Bernard Herrmann, der durch seine Zusammenarbeit mit Alfred Hitchcock berühmt wurde sowie der Oscar-Preisträger Franz Waxman und Miklós Rózsa ergänzen die stimmungsvolle Klangkulisse.
Akzente in dieser Musikdramaturgie setzen die Chorkompositionen für die Verlorenen Kinder von Guido Mancusi oder eine Malagueña von Isaac Albéniz, arrangiert und live interpretiert von der Gitarristin Andrea Wild, zu der die Piraten einen schmissigen Flamenco aufs Parkett legen. Köstlich die Zapteados von Captain Hook (László Benedek), dessen Holzbein ein Spitzenschuh ziehrt; und der Solopauker der Volksoper Sebastian Brugner-Luiz hat für die Indianertänze zwei Kompositionen für Schlagwerk beigesteuert. Das Orchester unter der Leitung von Wolfram-Maria Märtig brachte diesen musikalischen Mix volltönend zum Klingen, wobei die Blechbläser stellenweise (zu) laut ihre Dominanz einforderten.
Spielfreudige TänzerInnen
Die Choreografin Vesna Orlić ist Ballettmeisterin und vertritt den Ballettdirektor des Wiener Staatsballetts für künstlerische Belange an der Volksoper. Sie kennt ihre TänzerInnen genau und hat die Rollen in ihrem Ballett optimal besetzt. Keisuke Nejime bietet sich schon allein durch die Leichtigkeit seiner Bewegungen für die Rolle des Peter Pan an und findet in Robert Weithas als Schatten einen kongenialen Partner. Suzanne Kertész ist eine wunderbar zickige, eifersüchtige und eingeschnappte Fee Tinker Bell, die sogar nicht davor zurück scheut ihre Rivalin Wendy abschießen zu lassen.
Mamuka Nikolaishvili fügt sich als behäbiger Indianerhäuptling perfekt in das Tänzerensemble ein und gibt sich erst beim „Chief’s Song“ von Brugner-Luiz als Sänger zu erkennen. Tainá Ferreira Luiz als Tigerlily (die von den Piraten entführte und von Peter Pan gerettete Tochter des Häuptlings) und Felipe Vieira als ihr Bruder tanzen zu hämmernden Trommelschlägen ein stark akzentuiertes, temperatmentvolles Duett. Orlić hat für alle im Ensemble den passenden Tanzstil gefunden, seien es die schlangenenartigen Bewegungen für die Sirenen (Kristina Ermolenok, Tessa Magda und Natalie Salazar), die erdige Dynamik für die PiratInnen oder die steife Eleganz für die Eltern, Ekaterina Fitzka und Samuel Colombet, wobei die Strenge von Mr. Darling nach dem Ball schon weiche Knie bekommt. Uno Zubović repräsentiert als Gegenpol ein sehr jugendliches und kameradschaftliches Kindermädchen.
Mila Schmidt und Lorenzo Salvi verkörpern gender-spezifische Teenager: die romantische Wendy und der angeberische John, der auch gerne die Verlorenen Kinder belehrt. Timon Eis, Sänger im Kinderchor der Volksoper, machte als Michael, der Jüngste der Famiilie Darling, und auch als Tänzer beste Figur
Liebevolle Details
Alexandra Burgstaller sorgte für die adäquaten, thematisch passenden Kostüme und verstand es bestens, die Balance zwischen Buntheit und Ausdruckskraft zu finden. Die Sorgfalt und überlegte Inszenierung dieses rundum gelungenen Balletts setzt sich bis zur grafischen Gestaltung des Programmheftes fort. Dort gibt es ein Krokodil zum Basteln, ein Kreuzworträtsel, Zitate aus dem Originaltext, Fotos und Zeichnungen beleben die Hintergrundinformationen zur Entstehungsgeschichte.
Die Spielfreude und die Ausdrucksstärke aller TänzerInnen wirkte ansteckend und der tosender Schlussapplaus war diesmal keine Premierenpflicht. „Peter Pan“ ist ein Ballett das Jung und Alt in eine Welt der kindlichen und magischen Fantasie entführt und alle gleichermaßen begeistert. Das zweiaktige Werk ist nicht nur schnell, schwungvoll und kurzweilig, sondern bietet auch für Erwachsene die eine oder andere Pointe. Es ist also wohl anzunehmen und zu hoffen, dass dieser „Peter Pan“ noch viele Spielzeiten im Repertoire des Wiener Staatsballetts erhalten bleibt.
Wiener Staatsballett: „Peter Pan“, Uraufführung am 11. Mai 2019 an der Volksoper. Weitere Vorstellungen am 14., 18., 25., 29. Mai, 3., 17. und 27. Juni