Manchmal haben Künstler einfach Glück, weil sie im richtigen Moment am richtigen Ort sind. Friedemann Vogel zum Beispiel, der in der Stuttgarter Erstaufführung von Kenneth MacMillans Ballettdrama „Mayerling“ am 18. Mai 2019 den Kronprinzen Rudolf interpretierte. Phänomenal, mit ganz eigener, erschreckend glaubhafter, suchtzerfressen-introvertierter Ausdrucksnote im letzten von insgesamt drei kräftezehrenden Akten.
Derart selbstzerstört-zurückgenommen hatten jüngst weder Steven McRae beim Londoner Royal Ballet, noch Sergei Polunin mit dem Moskauer Stanislawski- und Nemirowitsch-Dantschenko-Musiktheater die von Frustgefühlen, Aggressionen und Todessehnsüchten geprägte Partie ausklingen lassen.
Ausgangspunkt für Rudolfs seelische Qualen – Vogel gab sich den sexuellen bzw. depressiven Eskapaden Rudolfs technisch perfekt mit subtiler, expressiver Steigerung hin – ist die ihm aus dynastischen Gründen aufgezwungene Vermählung mit Prinzessin Stephanie von Belgien. Ein ahnungsloses Julia-Pendant (Diana Ionescu – diesen Namen sollte man sich merken!), das er – übel drauf, nachdem die eigene Mutter weder Liebe noch Verständnis zeigt – in der Hochzeitsnacht knallhart mit einem Revolverschuss schockt.
Dass MacMillan alles Wesentliche rein choreografisch erzählt, verleiht dem Ballett seine Spannung. Keiner der sieben emotional höchst intensiven Pas de deux gleicht dem anderen, wenn Rudolf im Stückverlauf den fünf wichtigsten Frauen in seinem Leben gegenübertritt. Neben der abweisenden Mutter und der ungeliebten Braut sind das die komplexe Figur der Gräfin Larisch (darstellerisch wunderbar nuancierend: Alicia Amatriain), seine taffe Lieblingsmaitresse Mizzi Caspar (der Hingucker im verruchten, zweiten Wirtshaus-Akt: Anna Osadcenko) und natürlich Mary Vetsera.
Ihr heimliches Begräbnis in verregneter Morgendämmerung markiert Anfang und Ende des Werks. Für die umwerfende Elisa Badenes eine Paraderolle. Bahnbrechend furchtlos – ein liebesnärrischer Wirbelwind – weckt sie in Vogels Rudolf leidenschaftliche Gier und lässt sich von ihm über halsbrecherische Hebespiralen und Würfe zum Mitsterben verführen. (Alb)traumhaft!
Exquisit war die Premiere noch aus einem anderen Grund. Als erster (nachdem er Zweitbesetzung David Moore den Durchlauf der Generalprobe überließ) tanzte Vogel die Rolle – eine seiner wichtigsten, wie er selbst sagt – nicht in der imperial-überfrachteten, cineastisch-pompösen Ausstattung von Nicholas Georgiadis. Diese hatte MacMillans einzigartige, international hochgeschätzte Tanzadaption der reale Ereignisse widerspiegelnden Tragödie seit der Londoner Uraufführung 1978 ästhetisch geprägt.
Als Tamas Detrich vor vier Jahren die Übernahme für das Stuttgarter Ballett anstieß, machte er die Rundumerneuerung der Ausstattung durch Jürgen Rose zur Bedingung – in Europa berühmt für seine bis in die kleinsten Details raffinierten Ballett-, Opern- und Schauspieldekorationen. Die bis heute verwendeten Kostüme und Szenenbilder für John Crankos geniale Trias „Romeo und Julia“, „Der Widerspenstigen Zähmung“ und „Onegin“ hatte Rose zu Beginn seiner Karriere als Bühnenbildner kreiert.
Diesmal aber bestand die Herausforderung für den bald 82-Jährigen darin, in Übereinstimmung mit Lady MacMillan nichts zu verändern und doch alles neu zu gestalten. Rose machte sich also daran, Georgiadis‘ opulenter Samt- und Plüschanmutung die bedrückende Schwere zu nehmen und der Choreografie mehr räumliche Weite zu verschaffen. Mit überwältigendem Erfolg! Dank lichtdurchlässiger Hänger glänzen die Räume in einem luftigeren, helleren Look. Außerdem wurden die Settings mit Hintergrundinformationen zu Wesensart und individuellen Interessen vor allem des Kronprinzen und seiner Mutter „Sisi“ gespickt – eine zum psychologischen Verständnis des Werks schöne visuelle Ergänzung. Derart behutsam-innovative Erneuerung könnte so manche Repertoire-Erbstücke vom Nimbus „Museum“ befreien.
Welche Herausforderung das Stück für eine Kompanie bedeutet, ließ das tolle Stuttgarter Ensemble an Stellen erkennen, wo Gruppen wie die vier ungarischen Offiziere (Alexander Mc Gowan, Flemming Puthenpuravil, Adrian Oldenburger, Marti Fernández Paixá) sich im Lauf der nächsten Aufführungen bestimmt noch steigern und spielerisch wie musikalisch besser harmonisieren werden.
Prunkvoll geht es am Wiener Kaiserhof immer noch zu. Bloß nun schwingen die Roben der Tänzerinnen mit moderner Leichtigkeit bei jeder Bewegung mit. Und das Publikum tut sich beim Erkennen viel leichter, wer Kaiserin Elisabeth (Miriam Kacerova mit der vom Porträtmaler Franz Xaver Winterhalter verewigten Sternjuwelen-Frisur) oder Rudolfs Ex-Geliebte Gräfin Larisch ist. Herrlich zu erleben: Stuttgarts alte Ehemaligen-Riege, die ihre feudalen Auftritte als Kaiser Franz Joseph I. (jeder Blick von Egon Madsen als Rudolfs Vater sprach Bände!), Baronin Vetsera (Sonia Santiago), Erzherzogin Sophie (unverbesserlich: Marcia Haydée) und deren Hofdame (die unglaubliche, 92-jährige Georgette Tsinguirides) sichtlich genossen.
Was will man mehr bei einer Produktion, die trotz düsteren Inhalts nicht nur authentisch sondern auch überzeugend frisch daherkommt. Sogar die klangvollen Stimmungsbilder von Franz Liszts „Eine Faust-Symphonie“ und verschiedene Klavierstücke (Arrangement: John Arthur Lanchbery) ließen – einfühlsam gespielt vom Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von Mikhail Agrest (als Gast) – keine Wünsche offen. Das Theater verließ man mit dem Gefühl, ein altbekanntes Ballett erst jetzt wirklich zu schätzen.
Stuttgarter Ballett: „Mayerling“, Neueinstudierung am 18. Mai 2019. Weitere Vorstellungen: 28. Juli, 28. September, 5., 17., 18. Oktober