Das italienische Kulturministerium hat Bolzano Danza zum besten Tanzfestival Italiens ernannt. Neben der Ehre ist damit auch eine Budgeterhöhung um 10 Prozent verbunden. In der ersten Woche war das Festival (fast) ganz in der Hand von zwei französischen Choreografen. Olivier Dubois und Rachid Ouramdane waren je mit einem Solo und einem Gruppenstück vertreten.
„Tropismes“: Im Bann der Struktur
Olivier Dubois‘ Trilogie um Dantes „Göttliche Komödie“ ist vollendet. Mit „Tropismes“ schuf er den letzten Teil, der seine Faszination aus einer raffinierten choreografischen Struktur gewinnt. Aus einem scheinbar zufälligen Gehen der acht TänzerInnen kristallisieren sich nach und nach Gleichzeitigkeiten und Muster heraus, die sich in den nächsten 90 Minuten ständig verdichten und steigern werden – sowohl in der tänzerischen Intensität wie auch in der Lautstärke des pulsierenden Sound von François Caffenne. Mit ihm hat Dubois, Leiter des choreografischen Zentrums Roubaix Nord-Pas de Calais, einen kongenialen künstlerischen Partner an seiner Seite. Der DJ agiert auf der Bühne am Mischpult, sampelt Planetenklänge mit psychodelischem Pop, Elektronik und Disco-Musik und rockt die Gruppe, die in einer Art archaischem Rave-Ritual agiert.
Die freigesetzte Energie setzt sich in den Zuschauerraum fort und ohne dass wir es merken, sind wir Teil des Clubbings, Teil dieser Wut, dieser Kraft, die gegen den Untergang antanzt. Denn diese Tänzer, die sich so selbstverständlich, so lässig der Bewegung hingeben, sind unwiderstehlich und machen uns zu Komplizen ohne dass wir wirklich verstehen in welcher Sache. Die Vereinigung von Dantes Weltliteratur mit der heutigen Pop-Kultur kreiert jedenfalls einen Zustand menschlichen Strebens, der in seiner Dringlichkeit unüberseh- und -hörbar ist. Mit einer großartigen Gruppenchoreografie (in der einzelne Soli hin und wieder aufblitzen) manipuliert der Zauberer Olivier Dubois die Zuseherin in einen hypnotischen Sog, dem sie sich nicht entziehen kann oder will. Zu schön ist es , sich zu den Rhythmen des Ausnahme-DJs einfach treiben zu lassen oder die komplizierten Muster entschlüsseln zu wollen, die die wunderbaren jungen TänzerInnen so kraftvoll und unermüdlich zeichnen. Die Ästhetik setzt Emmanuel Gary mit seinem ausgeklügelten Design ins rechte Licht.
Und dennoch: stilistisch und musikalisch ist diese Arbeit wohl nicht jedermanns Sache. Und so erfüllt sich im Stadttheater Bozen auch beim Publikum die „Göttliche Komödie“. Des Einen Paradies könnte für den Anderen das Inferno sein. „Es bleibt uns nur der Dialog“, meint Dubois, „das Fegefeuer“.
„Franchir la nuit“: Fernsehbilder auf der Bühne
Rachid Ouramdane, Leiter der choreografischen Zentrums Grenoble, greift in seinen Arbeiten vorwiegend soziopolitische Themen auf. In „Franchir la nuit“ ist es das Thema Mitgration und Flucht, das er sehr explizit auf die Mittelmeerroute bezieht, indem er die Bühne unter Wasser setzt. Ouramdane setzt auf authentische Teilnehmer, und arbeitet an jedem Ort, an dem das Stück aufgeführt wird, mit Kindern, mit Migrations- oder Fluchthintergrund und setzt ihre Erfahrungen in Szene. In Bozen waren TeilnehmerInnen der Community Dance Akademie eingebunden (siehe dazu den Bericht von Gründer und Projektleiter Ewald Kontschieder). Auch wenn die Arbeit von den teilnehmenden Kindern und Jugendlichen positiv beurteilt wurde, stellte sich für die Zuseherin die durchaus zwiespältige Frage, ob hier nicht ihre Traumata instrumentalisiert werden. Denn künstlerisch eröffnete Ouramdane ebenfalls keine neuen Perspektiven auf die Bilder des Flüchtlingsdramas, das wir so oft in den Nachrichten geliefert bekommen. Die Anfangsbilder sind stark, dafür sorgt allein das glitzernde Wasser auf der Bühne. Doch bald wird das Geschehen repetitiv: Kinder werden von Erwachsenen (darunter vier TänzerInnen) durch das Wasser getragen werden; Körper schwimmen und werden von anderen brutal mit dem Fuß immer wieder zurückgestoßen; die DarstellerInnen formieren sich an den Händen haltend zur Gruppe. Es wird viel geplanscht, ein Tänzer entwickelt daraus eine Wasser-Perkussion. Insgesamt wusste der Choreograf aber die Wasserinstallation nicht zu nützen, konnte wohl auch mit Rücksicht auf die Sicherheit der (nicht trainierten) TeilnehmerInnen nur sehr vorsichtige Aktionen setzen. Das Geschehen auf der dunklen Bühne, auf der die PerformerInnen nicht klar erkennbar sind, berührt nicht.
Der Videokünstler Mehdi Meddaci hat einige Videos produziert. Wenn darauf ein Tänzer kraftvoll durch das Wasser schreitet, fühlt man sich noch an Poseidon oder die Seenotretter erinnert, doch die darauf folgenden Bilder entsprechen gängigen Klischees, etwa das Gesicht eines schwarzen Buben, der einen weißen Schwan streichelt oder ein erwachsener Farbiger, der starr in die Kamera blickt. Die Musik, verfremdete Interpretationen zum Beispiel von David Bowies „Heroes“ („I whish you could swim, like the dolphins can swim“) oder Dylans „Knocking on Heaven’s Door“ verstärken diesen Eindruck noch zusätzlich.
Yoann Bourgeous: In tiefen Wassern
Rachid Ouramdane war auch der diesjähriger Kurator der site-spezifischen Programmpunkte von Bolzano Danza. Bei einer Outdoor Performance seines Co-Direktor am CCN2-Grenoble Yoann Bourgeois im Kapuzinergarten stand ebenfalls Wasser im Mittelpunkt. Doch ihm gelang mit dem Kurzstück „Ophelia“ ein internsiver poetischer Moment. Dabei lässt er eine Tänzerin (Marie Vaudin) an einem mechanischen Arm aus dem Bett in schwindelnde Höhen heben und senkt sie dann in einen randvoll gefüllten Wassertank ab. Dort schwebt sie in ihrem weißen Kleid, schaut verzagt dem Techniker nach, der sie in diese Position gebracht hat, stößt sich nach oben ab, um im schmalen Raum zwischen Wasser und Tankdeckel Luft zu schnappen und wieder abzusinken. Zehn Minuten dauert dieses Spiel zwischen Leben und Tod – oder ist es nur ein Traum? Am Ende wird Vaudin wieder aus dem Wasser geholt und ins Bett gelegt. Vor der Bozener Bergkulisse erlebte man hier einfach 10 Minuten lang atemberaubende Schönheit.
Die vierte Produktion, die ich in dieser Woche gesehen habe, stammte von Camilla Monga, einer Absolventin von P.A.R.T.S. in Brüssel, und dem Jazzposaunisten Filippo Vignato. Die erste Arbeit des jungen Teams „Golden Variations“ ist eine Art Studie über den Dialog zwischen Musik und Tanz, in der der Musiker den Ton angibt, dem die Tänzerin und der Tänzer (Pieradolfo Ciulli) folgen. Das Ziel der 45-minütigen, abstrakten Performance, „zu einer inspirierenden, emotionalen Wissenschaft“ (Programmzettel) über ein Instrument und zwei Körper zu werden, bleibt ein intellektueller Wunsch.
Bolzano Danza: ein Festival der Partizipation
Wie unterschiedlich Partizipation auf der Bühne sein kann, zeigte eienrseits Ouramdanes „Franchir la nuit“ mit TeilnehmerInnen des Sommercamps der Community Dance Akademie Südtirol. Gleichzeitig findet bei Tanz Bozen / Bolzano Danza (ähnlich wie bei Impulstanz in Wien) parallel zum Performance-Festival ein Workshopprogramm statt, wo unter anderem auch in diesem Jahr das Thema Community Dance in einem Kurs mit Tamara McLorg behandelt wurde.
Andererseits werden jedes Jahr zwei Kurse angeboten, die speziell auf eine Aufführung im Studio des Stadttheaters Bozen hinarbeiten. Die 8. Ausgabe von DanceWorks war mit Choreografien vom Lehrer des Jazz contemporain Didou Barbier (F) und des Hip-Hop-Dozenten Fabrizio Lolli besonders stimmig gelungen. Barbiers ganz in Weiß gehaltene Stück „Hell … dunkel“ bündelte die unterschiedlichen TänzerInnen zu einer einheitlichen Ästhetik mit einem eindrucksvollen, und doch einfachen Lichtdesign. Lollis Urban Dance Choreografie feierte hingegen die Vielfalt und die menschliche Kommunikation und – mit Publikumsbeteiligung – die inspirierende Tanzgemeinschaft, die sich zwei Wochen im Jahr in Bozen versammelt.
Tanz Bozen / Bolzano Danza 12. bis 26. Juli 2019. Gesehene Vorstellungen: Olivier Dubois „Tropismes“ am 15. Juli, Yoann Bourgeois „Ophelia“ und Camilla Monga “Golden Variations” am 18. Juli, Rachid Ouramdane „Franchir la nuit“ am 19. Juli, alle im Stadttheater Bozen