Der Prinz steht nicht mehr an erster Stelle: weder unbedingt in den Wünschen und Träumen eines heutigen „Aschenputtels“ noch in der Choreografie der Grazer Ballettchefin Beate Vollack, dessen vielbeklatschte Premiere auch noch andere Überraschungen aufzuweisen hat: etwa, dass Vollack selbst als Stiefmutter auf der Bühne steht - als eine bös-schillernde, ichbezogen fordernde Persönlichkeit.
Ihre temperamentvoll performativen Fähigkeiten wie auch solche für ironischen Witz zeigte sie freilich schon vor dem eigentlichen Vorstellungsbeginn: bei der knapp viertelstündigen „Werk-Einführung“ nämlich. Und dabei wurde klar, dass bei allem Märchenhaften ausschließlich idealistisch verschleiernder Staub weitgehend fehlen würde und also Allgemeingültiges in zahlreichen Metaphern zum Vorschein käme.
Vollacks inhaltliches Konzept beruht auf dem gleichermaßen wesentlichen wie zeitlosen menschlichen Bemühen, ein erträumtes Ziel mit eigener, aber, wenn notwendig, auch mit helfender Kraft zu erreichen: Cinderella will wie die verstorbene, geliebt Mutter den Tanz in den Mittelpunkt ihres Lebens stellen. Ungeachtet des diesbezüglichen Verbots der Stiefmutter, die mit allen Mitteln für die Tanz-Karriere ihrer Töchter kämpft. Cinderella setzt ihre Leidenschaft immer wieder heimlich und zum Teil mit Hilfe des unterstützenden, aber selbst von seiner zweiten Frau eingeengten Vaters um; mit ihm, der seinerseits vom Tanzen mit Cinderellas Mutter träumt. Mit feinen, getanzten Traum-Bildern beginnt zu diesem inszenatorischen Zwecke die Choreografie mit ihrem eigentlichen Ende und geht über in realen Szenen im Ballettsaal, wo das Aschenputtel sich unterzumischen versteht – irgendwo zwischen Traum und Wirklichkeit. Schon hier ist die enge Verflechtung von Solo-Tanz und tänzerischem Agieren des durchwegs sehr überzeugenden Ensembles von hoher Qualität.
Die atmosphärisch zwischen Emotionalität, disziplinärer Härte, Pompösem aber auch (realistischerweise) Tragischem sich ausbreitende Musik Prokofjews wird von Dirigentin Oksana Lyniv lebendig, differenziert die aufeinanderprallenden Gefühlswelten unterstreichend interpretiert. Da ist treibende Dynamik wie harmonischer Fluss. Nahezu übergangslos vollziehen sich auch die kleinen, einfallsreich angelegten und wunderbar vieldeutig zu interpretierenden Wechsel im zurückhaltenden Bühnenbild von Dieter Eisenmann. Geschmackvoll einzelne Zeitperioden und damit ihre Normen und Grenzen zitierend seine Kostüme dort, wo notwendig. Zurückhaltend dann, wenn inhaltliche Gegebenheiten und Entwicklungen für sich sprechen sollen.
Lucie Horná als Cinderella erfüllt allein schon in der offenherzigen Art ihrer Bühnenpräsenz ihre Rolle zu hundert Prozent. Die Harmonie ihrer zarten Bewegungen gleitet strahlend in solche von beglückter Dynamik und technischem Anspruch: ein berührendes Aschenputtel, eine konsequent um den Tanz klug sich bemühende junge Frau und schließlich auch eine hinreißende Liebende. Edel ergänzend unterstützt vom sprungkräftigen Christoph Schaller als Prinz, der mit unaufdringlicher männlicher Kraft und gleichermaßen zielstrebiger wie achtsamer Eleganz seine (Tanz-)Welt erobert. Überzeugend auch, wenn er die köstlichen Szenen der sich um den Schuh bemühenden Damen mit Gelassenheit überblickt. Und wenn er den Verführungskünsten Hollywoods wie Bollywoods zu widerstehen vermag - einfallsreich choreographisch angelegt als Tanz der Buchstaben respektive der (hohlen) Worte.
Eine Klasse für sich in Anmut, in der ruhigen Gerichtetheit ihrer Bewegungen und damit in ihrer Rolle als zutiefst vermisste Mutter und Ehefrau ist Miki Oliveira in ihrer geradezu sphärischen Anwesenheit (wie natürlich auch in der als Sylphide), in ihrem Tanz eine Idealbesetzung.
Dass Beate Vollack eine ebenso ideale Stiefmutter mimen würde, war seit ihrer Einführung klar. Ihre spöttischen wie herrischen Bewegungen und Gesten, ihr kraftvoll-exakter Tanz entsprechen allerdings nicht nur der Disziplin, die sie von anderen fordert, sondert auch ihrem (nachvollziehbaren und damit auch interpretatorisch tiefer ansetzenden) Mangel an Anerkennung und Liebe. Eine, die ihr ein so feinnerviger Mann/Tänzer wie Paulio Sóvári selbstverständlich nicht geben kann und will – behält er diese doch in seinem Innersten seiner ersten Frau/den Pas de deux mit ihr vor.
Das Publikum weiß es ihm zu danken, wie auch sonst in zahlreichem Szenen- und End- Applaus den Künstlern gezeigt wird, dass diese Choreografie den Rezipienten von heute erreicht, so traditionell sie auch in der Sprache des Balletts angelegt ist: Da sie vom konzeptuellen Ansatz her und in seiner Umsetzung, die Allgemeingültiges herausarbeitet, individuelle Assoziationsmöglichkeiten anbietet und doch des Menschen immerwährende Sehnsucht nach Märchenhaftem, Hoffnungsbestärkendem durch Glauben am und Sieg des Guten belässt.
Dies manifestiert sich tänzerisch immer wieder im ästhetisch ansprechenden, variationsreichen und künstlerisch gelungenem Zusammenspiel von Ensemble und Solo-szenen wie auch in deren jeweiligen Einzelsequenzen. Und es manifestiert sich im Inhaltlichen, das in klaren wie mehrschichtigen Ebenen sowohl unterhaltsam wie emotional gerne mitgehen lässt.
Ballett der Grazer Oper: „Cinderella“ Ballett in drei Akten, Musik von Sergej Prokofjew; 14. November 2019 im Opernhaus Graz. Weitere Vorstellungen am 17., 21., 29., 30. November; 4., 18., 20. Dezember; 1., 5., 7. März; 23., 24. Juni