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MARIn der radikalen Minderung ihres Angebots an oberflächlichen Sinnesreizen bewirkt, ja erzwingt die Performerin Clarissa Rêgo eine tiefergehende Konzentration auf das von ihr Gezeigte. Langsamkeit im reduzierten Geschehen und Monotonie der Abläufe verursachen sensibilisierende Entspannung und, früher oder später, fasziniertes Staunen über die Kraft der sich real entwickelnden sowie daraus  imaginierbaren Bilder.

Clarissa Rêgo, 1983 in Brasilien geboren und aufgewachsen, sammelte ab 2000 in der Compagnie Lia Rodrigues‘ prägende Tanzerfahrungen. 2014 schloss sie ihren Master in Contemporary Studies of Arts in Rio de Janeiro ab, tanzte in mehreren europäischen Ländern und lebt nun seit 2016 in Österreich, Graz; als Performerin und Lehrende sowie seit „Bloom“ (tanz.at berichtete), dem ersten Teil ihrer Trilogie „Solo Studies“, nun auch als Choreografin. „Mar“, der hier präsentierte zweite Teil, entwickelt sich im scharfen Gegensatz zu Bloom, wo allein eine Stehleiter die Bühne ausmachte, nun in den Weiten eines ausgedehnten Bühnenraumes. Eines für längere Zeit fast dunklen Raumes, der von etwa 50 identen Objekten in rechteckig akribisch angeordneter Reih-und-Glied-Aufstellung beherrscht wird. Es sind grauschwarze, undefinierbare, unbekannt-bedrohliche Objekte (die sich später als luftgefüllte Plastik-Quader entpuppen). Sie sind in gewisser Weise tonangebend – als Materie, als umgebende Fakten; jedenfalls sind sie im Vergleich zum sich Bewegenden, Lebendigen, zum Menschen, in (relativ?) gleichem Maße bestimmend wie dieser oder doch zumindest von erheblicher Bedeutung.MAR2

Um diesen Basis-Faktor rankt sich also auch die knapp einstündige Performance Rêgos. Wie man ihn genauer definiert – sozial, wirtschaftlich, humanistisch, technisch, futuristisch… - bleibt ebenso weitgehendst dem Rezipienten überlassen wie das, was an Miniaturaktionen dazwischen passiert. Was aber sicher ist: Das zu Sehende hat weitgehend das Potential, den Spannungsbogen zu halten. Vom vielleicht ein wenig langen ersten Teil abgesehen, in dem die Performerin auf allen Vieren durch die Plastik-Gänge zieht, in Zeitlupe meditierend wandelt, zielstrebig suchend voranschreitet. Bis sie sich stärker abgrenzend ‚definiert‘, sich zu ‚erkennen‘ gibt in Form eines markerschütternden Schreis, der in zahlreichen Variationen und Lichtstimmungsänderungen variiert, zum Stöhnen wird, zum Röcheln. Ihre Bewegung zwischen den Ballons hält an, bleibt zwischen dem sie Umgebenden konsequent immer nur in Bruchstücken und unterschiedlichen Perspektiven sichtbar; lässt also fast alles offen, lässt Raum für ureigene Sehweisen.

In einer Art zweiten Teil beginnen sich auch die Objekte zu bewegen respektive werden bewegt, da sie allesamt miteinander und dies überaus wohlüberlegt durchdacht durch (fast) unsichtbare Schnüre verbunden sind. Wiederum ist die nun entstehende ‚interaktive Aktion‘ von ‚Lebendigem‘ und toter Materie eine verschlüsselte, auf jeden Fall eine faszinierende. So wie etwa das kurze ‚Auftauchen‘ des Agitators in Form seines Kopfes inmitten seiner ‚Marionetten’, seiner Sklaven, eines Objekt-Meeres, seines Objekt-Mantels, Also das Sichtbarwerden des Dirigierenden oder ist er doch ein Gefangener, ein Beschützter, oder … ?

Das Meer an offenen Fragen zu den unzähligen Möglichkeiten eines Miteinander in dieser Form theatral umzusetzen ist mutig und sehr kreativ. Es ist allerdings auch eine große Herausforderung an den Rezipienten, der nur, wenn er sich erwartungsfrei einlässt, anregende Inputs erhält, die erlebten Sinneseindrücke dann aber auch  nicht so schnell vergisst.

Clarissa Rêgo „Mar“ am 16.Oktober 2020 im Kristallwerk Graz

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