Mitreißende Turbulenzen. Bloß nicht die Schneekugel schütteln! Es ist ein scheinbar harmloses Requisit, das Choreograf Andrey Kaydanovskiy (als Halbsolist beim Wiener Staataballett engagiert) zum tückischen Begleiter in Marjas Leben macht. Darin steht ein kleines, fensterloses Holzhaus – die Miniatur dessen, was sich als mobile Kulissenwand und in gestaffelten Umrissen in Groß auch im Bühnenbild Karoline Hogls wiederfindet. Symbolkräftig für ein Spiel gegen die Fügungen des Schicksals, bei dem die Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt allzu leicht verschwimmen.
Das in einem überbehüteten Familienpseudoidyll feststeckende junge Mädchen – die darstellerisch wie tänzerisch fantastische Ksenia Ryzhkova – ist eine von vier Hauptfiguren. Ausgestattet mit jeweils überaus starken choreografischen Profilen treiben diese eine tragikomische, in Zügen märchenhafte Geschichte voran. Zugleich wird holzschnittartig-zeitlos in kantig-schlichter Manier von der Brüchigkeit des Glücks erzählt, von dessen permanentem Gefährdetsein.
Damit wird Kaydanovskiy im Hinblick auf die Fortschreibung von Handlungsballett-Traditionen Alexander Puschkin als Begründer der modernen russischen Literatur voll gerecht. 2019 im Zug der Vertragsverlängerung von Igor Zelensky als Spartenleiter wurde er zum Hauschoreografen des Bayerischen Staatsballetts berufen. Für die Kompanie ein echter Glücksgriff. Nach Crankos „Onegin“ hat er nun ein weiteres Meisterstück des russischen Nationaldichters in die Sprache des Tanzes übersetzt: die hierzulande wenig bekannte, kurze Novelle „Der Schneesturm“.
Das ist Kaydanovskiy in offensichtlich enger Zusammenarbeit mit seinem Produktionsteam auf originelle und recht unkompliziert-findige Weise gelungen. Trotz schwieriger Pandemieauflagen und einem künstlerisch brutalen Jahr des obenauf am Kamm der Inzidenzwellen Reitens. Erstaunlich präzise und dennoch herrlich eigenwillig folgen die 16 Bilder des Zweiakters der Vorlage. Diese findet sich im Programmheft abgedruckt. Über die Opernwebsite kann man sie sich aber auch von der stimmlich rauchigen und dabei phänomenal eindrücklichen Mechthild Großmann – Pina Bauschs einziger Nicht-Tänzerin im Wuppertaler Tanztheater – vorlesen lassen.
Wie das Ordnungsgefüge um Marja herum in Bewegung gerät, welche emotionalen Schieflagen der quasi aus dem Nichts immer wieder einfallende Blizzard für die Charaktere parat hält, kapiert man ohnehin dank einer aufs Engste ineinander verschränkten Szenenstruktur. Das mächtig Illustrative von Lorenz Dangels Auftragskomposition könnte man durchaus ankreiden, würde sich seine Musik mit ihren subtilen leitmotivischen Passagen, zahlreichen Zitaten – sie zersprengen jeden einheitlichen Stilbogen –, romantisch-überdrehten oder elektronisch durchwühlten Klangebenen nicht derart stimmig ums Bühnengeschehen schmiegen.
Da posieren zu klar barocken Klängen, Richtung Zuschauerraum starrend, Vater (Matteo Dilaghi), Mutter (Séverine Ferrolier) und Tochter. Für das von Zofe (Elvina Ibraimova) und Knecht (Robin Strona) flankierte Porträt – ohne Fotograf weit und breit. Ein Bild von Wohlstand und Harmonie, das vor unseren Augen brüsk zur Karikatur mutiert. Knapper geht ein vielsagender Einstieg kaum. Papa hustet und kippelt auf seinem Stuhl herum. Statt zueinander zeigen die elterlichen Knie plötzlich voneinander weg. Das Personal greift beherzt-helfend ein, auch bei Marja, deren Armen die wuchtige Schneekugel zu entgleiten droht. Gelangweilt steht sie in der Mitte, bereit, der konventionsverkapselten, glasverkuppelten Enge zu entfliehen.
Bevor Marja ihren Herzbuben Vladimir (sein Erkennungsmotiv spielt Michael Dolak am Bandeon) trifft, um in einem beeindruckend dichten Pas de deux das gemeinsame Durchbrennen zu verabreden, rauscht – in seiner Linienführung auffallend schematisiert – in den pompös-bunten Kostümen von Arthur Arbesser erst noch ein Ballvergnügen bestens aufgelegter Paare an ihr vorbei. Im schmucklos leeren Raum mitsamt drei vergeblich um sie bemühten Verehrern (Shale Wagman, Nikita Kirbitov, Sergio Navarro). Mit ihrer schraubstockartigen Umzingelungstaktig kommen sie nicht weit. Nur Jonah Cook, der sich mit Haut und Haar in die Rolle des armen Vladimir stürzt, vermag ihr Gemüt aufzuhellen. Fanatisch alternativlose Liebe ist hier die treibende Kraft. Für Vladimir wird sie zum Verhängnis. Er scheitert in einem furiosen Schneeorkan. Um die Orientierung gebracht und bis zur Erschöpfung durchgebeutelt von sechs Schneetänzern ganz in weiß. Dazu werden alle Theaterregister gezogen. Die Musik tobt, Flocken wirbeln wild herum und im Hintergrund taucht gespenstisch und schräg die Trauungskirche auf.
Nach der Pause sind vier Jahre vergangen und ein Krieg ist überwunden. Wiederaufbaustimmung treibt eine nun wesentlich lockerer auftretende Bevölkerung um. Rumms. Inmitten des fröhlichen Festtreibens lässt Kaydanovskiy seine Marja mit dem feschen Burmin zusammenprallen. Ein regelrecht magnetischer Effekt. Wie schon im Pas de deux mit Vladimir zählt jede Geste, ist jedes Umfassen des Paares aussagekräftig und Jinhao Zhang als Burmin stets drauf bedacht, den Ring an seiner Hand zu verbergen.
Man ahnt, was sich in der stürmischen Nacht zugetragen hat. Kaydanovskiy enthält es dem Publikum nicht vor. Auslöser für die erklärende Rückblende ist eine Ohrfeige. Auf Puschkins Happy End setzt der Choreograf allerdings noch einen zweiten offenen Schluss drauf. Ein genialer Kunstgriff, der ans Ende des Films „Basic Instinct“ erinnert und über die Einführung einer zusätzlichen Figur funktioniert. Für den Osiel Gouneo ist Belkin eine Paraderolle. Den Traumatisierten an Burmins Seite – Anlass für ein beeindruckendes Männerduett – interpretiert er fabelhaft teuflisch und darf – quasi als sympathischer Joker – sogar eine kriegsknacksirre Show abziehen. Kaum hat das Liebespaar zueinander gefunden, da wird Burmin von Belkin unter einem Vorwand aus der Tür gelockt. Jetzt heißt es für Marja: Bloß nicht die Schneekugel schütteln! Wirklich mitreißend.
Bayerische Staatsballett: Andrey Kaydanovskiys „Der Schneesturm“, Uraufführung am 17. April live aus dem Nationaltheater München gestreamt. Ab 23. April 30 Tage als Video-on-Demand für 9.90 €/24h-Ticket auf www.staatsoper.tv verfügbar.
Zur digitalen Ballettfestwoche werden aus dem aktuellen Repertoire noch die Abende „Portrait Wayne McGregor“ (19. April), „Jewels“ (20. April), der Dreiteiler des Bayerischen Junior Ballett München (21. April) und „Schwanensee“ (mit Ksenia Ryzhkova, 22. April) je einmalig kostenfrei gezeigt. Außerdem steht „Le Corsaire“ (2 April April) und zum Abschluss die Filmdokumentation zu 30 Jahren Bayerisches Staatsballett „Pirouetten, Passionen, Platzl “ (mit Podiumsgespräch und van Manens „Black Cake“, 25. April) auf dem Programm.