Die letzte Premiere dieser Saison in der Wiener Staatsoper galt dem Ballett. Mit Wiener Erstaufführungen von Balanchine und Alexei Ratmansky sowie einer eigenen Uraufführung verabschiedeten sich Martin Schläpfer und seine Compagnie in die Sommerferien. Das Publikum begab sich an diesem Abend auf eine Reise von der Neoklassik bis zum akademischen Tanz im 21. Jahrhundert, von der Tanzkunst in harmonischer Schönheit hin zu einem emotionalen Rollercoaster.
Rückblickend wirkt der Beginn beinahe harmlos mit Ästhtetik pur in George Balanchines „Symphony in Three Movements“ von Igor Strawinsky. Fast and furious, der erste und dritte Akt, mit eleganten Linien und akrobatischen Sprüngen. Schwarz-weiß die Trikots, nur die drei Solistinnen steuern Farbtupfer in pink, rosa und lachsfarben bei. Die Ponytails der Tänzerinnen schwingen hin und her, es ist ein Gute-Laune-Ballett, auch wenn die Musik in den 1940er Jahren unter den Eindruck der Krieges entstand. Referenzen dazu mag man in den Märschen entdecken, die der Komponist wiederholt einbrachte. Magische Momente entfalten sich da in der Linienführung von 16 Tänzerinnen, wenn sie sich nach und nach, und in unglaublicher Geschwindigkeit wie Dominosteine in einer Diagonale anordnen.
Gab im ersten Satz das Klavier den Ton an, so gibt die Harfe im zentralen Adagio-Satz die Stimmung vor. Balanchine inszenierte dazu einen kontemplativen Pas de deux, getanzt von Liudmila Konoavalova und Masayu Kimoto, mit streng geometrischen, kantigen Armkonstellationen, Bewegungsvariationen, die die Linienführung des Malers Piet Mondrians evozieren.
Die Malerei eines anderen Zeitgenossen, nämlich Wassily Kandinsky, stellt Alexei Ratmansky in den Mittelpunkt seines Balletts „Pictures at an Exhibition“ zur Klaviersuite „Bilder einer Ausstellung“ von Modest Mussorgski. Seit 2009 ist der vor allem für seine sorgfältigen Rekonstruktionen der Ballette aus dem 19. Jahrhundert hochgelobte Choreograph Artist in Residence beim American Ballet Theatre und führt in gewissem Sinne den russischen Spirit im amerikanischen Ballett, das so entscheidend von Balanchine geprägt wurde, weiter. Seinen Einstand in Wien feierte er nun mit dem 2014 für das New York City Ballet entstandene Werk.
Kandinskys abstrakte Kreise spiegeln sich im Design der Projektionen auf der Videowall von Wendall K. Harrington sowie in den Kostümen von Adeline André wider. Die Themen und Charaktere der Original-Malereien (von Vikor Hartmann), die Mussorgski für seine Komposition inspirierten, spielen bei Ratmansky eine untergeordnete Rolle. In Ketevan Papavas Solo mag man den Gnom, in Francesco Costa die Hexe Baba Jaga erkennen, doch quirlige Soli etwa mit Ioanna Avraam, ein Frauenquintett, ein Männerquintett, der Pas de deux von Claudine Schoch und Marcos Menha mit seinen überaus komplizierten Hebungen, oder das Gruppen-Schlussbild, (außer den Genannten tanzen Arne Vandervelde, Nina Poláková, Lourenço Ferreira, Maria Yakovleva und Roman Lazik), eine Art Stargazing-Tableau, sind Bewegungsübersetzungen der Klangfarben in der großartigen Interpretation der Pianistin Alina Bercu.
Der Gamechanger
Das helle, heitere Ballett ist das perfekte Gegenmittel zum letzten Stück des Abends, der Uraufführung von Martin Schläpfers „Sinfonie Nr. 15“ von Dmitri Schostakowitsch. Grau-schwarze Kostümen vor einem schwarzen HIntergrund mit weißen Einsprengseln - da heben sich nur die bloßen Arme der Frauen und die nackten Oberkörper der Männer ab. Doch die düstere Ausstattung von Thomas Ziegler bietet ein reichhaltiges Spielfeld für die Lichtregie von Robert Eisenstein. Immer wieder tauchen Tänzer*innen vor diesem Backdrop plötzlich auf, oder verschwinden darin wie in einem schwarzen Loch.
Schläpfers Tanzidiom ist ein Gamechanger, die elegante Neoklassik weicht einer viszeralen Intensität der Bewegung, die den klassisch-akademischen Tanz mit all seinen vielfältigen Einflüssen erbarmungslos ins 21. Jahrhundert schleudert. Dabei werden die Grundsätze der Dance d’école gleichzeitig verstärkt: der emotionale Gehalt wird ins Zentrum gerückt, während Musik und Tanz auf Augenhöhe miteinander in Beziehung treten. Bei Schläpfer interpretieren die Tänzer*innen nicht mehr Gefühle, er übersetzt sie, entsprechend der Notenpartitur, ganz direkt in Bewegung. Der Unterschied, zum Beispiel bei Liudmila Konovalova ist eklatant. Erfüllte sie im Balanchine-Ballett noch ganz brav die virtuose Ballerinenrolle, so erlangte sie im „Sinfonie Nr. 15“ eine Dringlichkeit, hinter der ihre Person zurücktrat. Ihr Duett mit Marcos Menha ist verkörpertes Leiden, abstrakt, ohne Vorgeschichte, ohne psychologische Deutung.
Schostakowitsch‘ Musik treibt, baut sich zu einer Turbo-Geschwindigkeit auf, verdichtet den Klang, steigert die Lautstärke. Bei seinem Dirigenten-Debut an der Wiener Staatsoper leitete Robert Reimer mit sicherer Hand das Orchester, wie schon zuvor bei der Strawinski-Sinfonie, und entlockte dem Klangkörper all die unterschiedlichen Nuancen, Explosionen, Dissonanzen und Harmonien.
Martin Schläpfer gelingt es, sich gegen diese scheinbar übermächtige Klangkulisse mit ganz eigenen Bildern durchzusetzen und eine ebenso fundamentale Bewegungssprache zu finden. Er beschäftigt sich nicht nur mit der Musik, sondern auch mit dem Leben des Komponisten und dem gesellschaftlichen Umfeld, in dem das Werk entstanden ist. So kann Schostakowitschs letzte Symphonie, die er im Alter von 66 Jahren komponiert hat, als eine Art Recap seines künstlerischen und privaten Lebens verstanden werden. Jedenfalls zitiert er darin nicht nur seine eigenen Werke, sondern auch andere Komponisten. Da ist neben den Klängen seiner Jazz-Suite, die frivole Heiterkeit Rossinis ebenso zu finden wie die düster-apokalyptische Welt Wagners.
Der 62-jährige Choreograf aus der Schweiz verknüpft diese Vorlage auch mit seiner eigenen Biografie ohne dabei konkret zu werden. Hier und da meint man Referenzen in den Bewegungsbildern zu erkennen, zum Beispiel an Wilhelm Tell, wenn eine Gruppe von Tänzern kurz mit Äpfeln auf dem Kopf auftaucht, um ebenso schnell wieder aus dem Bild zu verschwinden. Sind die trippelnd-gleitenden Schritte vorwärts und rückwärts vielleicht ein Hinweis auf das konfliktgeladene Verhältnis des Komponisten zur UdSSR und besonders zu Diktator Stalin, da sie doch so eklatant an den georgischen Volkstanz erinnern? Übrigens ebenso wie die virilen Gruppen, in die sich die Männer da und dort zusammenfinden. (Stalin war ja gebürtiger Georgier.) Und dann tauchen wiederum Bilder von verspielten Katzen oder Commedia dell’arte Figuren auf, einfach so … Doch das ist auch die Magie von Martin Schläpfer, dass die Zuschauerin sich selbst bemühen muss, Sinn in diesem Bewegungsfluss, diesen verbogenen Körper, diesen so noch nie gesehenen Partnerings zu bringen. Schläpfers Ballettkunst des 21. Jahrhunderts erfordert selbstbestimmte Zuseher*Innen.
Das kann überfordern. „Sinfonie Nr. 12“ am Ende eines dreiteiligen Abends ist eigentlich schon ein Zuviel an Musik und Tanz. Dieses Werk ist an sich schon abendfüllend. Zwei Monate lang haben wir nun Zeit, die Erinnerung daran in unser Gedächtnis einzunisten um sie im Herbst wieder abzurufen. Es lohnt wohl das Stück mehrmals zu sehen sehen, um diese Fülle an Eindrücken mit der eigenen (Lebens-)Erfahrung verbinden zu können, sie zu erweitern und neue Perspektiven zu entdecken.
Kein Zweifel jedenfalls, dass beim Wiener Staatsballett eine spannende und aufregende Entwicklung begonnen hat. Bemerkenswert ist auch, dass es dem Ballettchef in dieser ersten Saison zweimal gelungen ist, die Ensembles an der Staatsoper und an der Volksoper in einer Kreation zu vereinen (das erste Mal bei "4"), ja miteinander ohne hierarchische Abstufungen zu verschmelzen – trotz aller logistischer und Pandemie-bedingter Widrigkeiten.
Wiener Staatsballett: „Tänze, Bilder, Sinfonien“, Premiere am 26. Juni 2021 in der Wiener Staatsoper. Vorstellungen in der nächsten Saison: 17. 20., 21., 24., 25. September, 28. und 30. Oktober