„good enough“ war die erste Premiere eines Stückes von Philipp Gehmacher im Tanzquartier Wien, damals, 2001, zu dessen Eröffnung unter der ersten Künstlerischen Leiterin Sigrid Gareis. Nun, mit Bettina Kogler pflegt nach Walter Heun die dritte Intendant*in die Zusammenarbeit mit Gehmacher, zeigt das Haus mit „In its Entirety“ die 15. Premiere einer seiner Arbeiten. Schon das spricht von einer ganz besonderen Qualität. Der der Verbindung und der des Künstlers.
20 Jahre Tanzquartier Wien und 20 Jahre persönlicher und künstlerischer Entwicklung. Der Wiener Choreograf, Tänzer und bildende Künstler Philipp Gehmacher reist in seinem Solo „In its Entirety“ durch Räume. Geschaffen von Worten, vom Körper, Klang, Gesang und vom Licht. Ausgehend von einer zweiteiligen Arbeit, deren erster Teil, Lesung und Konzert, gemeinsam mit Alex Franz Zehetbauer beim Kultursommer Wien 2020 live gezeigt wurde, und einem im Herbst 2021 für die Bühne kreierten zweiten Teil, beide Teile wurden in Kooperation mit LE STUDIO Film und Bühne im Februar und Oktober 2021 als Video-Stream bereitgestellt, zeigt Gehmacher nun die vollständige Bühnen-Version in der Halle G des TQW. Und er beginnt mit Teil 2.
Die Tiefe des Bühnen-Raumes reduziert ein schwarzer Vorhang deutlich. Nur ein Mikrofon steht davor. Mit der Perücke, die er sich aufsetzt, reist er 20 Jahre zurück. In die Zeit der TQW-Eröffnung und in seine ersten Künstler-Jahre. Zu den Wurzeln seiner ganz eigenen, unverkennbaren Bewegungssprache. Er liest: „Die Arm-Geste. Brustbein, Aufrichten, Midlife. „In the Middle, Somewhat Elevated“. Schirm, Schutzschild. Der Bildschirm ist dein Herz. Große Fugen, große Fragen, große Flucht. Sucht. Die Brust als Korb und Käfig. Angezogen ausgezogen. Auf das Wichtigste reduziert sein. An sich vorbeileben. Das Kind bleibt verschollen, verstummt, versteckt. Mehr als eine neue Sprache muss her.“ Er wechselt das Kostüm vom Grau des Einerlei ins Schwarze der Existentialisten. Und er begibt sich auf die Suche nach sich selbst. Erschöpfung. Kampf, skulpturale Suche nach Halt und Orientierung. Zweifel und Wirrnis.
Dunkel ist der Raum vorn. Der Vorhang öffnet sich in der Mitte zu hellen Dahinter. Im Kuschelanzug, die Front rosa (Ja: Seht her!), der Rücken bunt, erschließt er sich vorsichtig diesen Raum, dann auch die Treppe neben der Tribüne. Und er rennt hinunter in das Licht. Selbstermächtigung. Coming out. Der Sound fast sakral. Der dritte Raum dahinter, wie ein tiefes Loch, ein Höllenschlund geradezu, die Tiefe des Backstagebereiches ist nur zu erahnen, öffnet sich nur kurz einmal. Das rosa Kostüm fliegt von der Seite herein. Er erscheint im gedeckt-vielfarbigen Nicht-Regenbogen-Batik-Shirt und Jeans.
Teil 1 beginnt wie in einer Werkstatt-Athmosphäre, und dennoch, wie alles hier, hochprofessionell. Philipp Gehmacher liest, Alex Franz Zehetbauer singt, unsichtbar für uns, wie ein Engel aus dem Off. Die gesprochenen Worte Gehmachers hallen wieder in seinem Gesang. Seine klare, schöne Stimme dringt mit sauber gesetztem Ton ins Innere. Vom Fallen reden und singen sie, und vom Sinken in sich selbst, viele Male. Was kommt? Vom nicht Greifbaren, vom nicht Zusammenkommen, wenn wir zusammenkommen. Ich werde nochmal alles durchgehen, wodurch ich ging. Gestische Einwürfe. Ich spiralte in und aus deiner Umarmung. You, my opposite, in opposition. Never too close. Chaos. Um zu scherzen. Kein Haus, keine Arme. Sei nett. I'm beside you. Here in the sun. Beside. Beside.
Weist diese sehr persönliche, biografisch und von seinen Emotionen eingefärbte Arbeit in die Zukunft, wie es der Progtrammzettel versprach? Wer sieht, dass „viel mehr Paradies in der Hölle ist, als uns erzählt wurde“, der hat eine Zukunft. Mit Philipp Gehmacher im Außen. Und doch ganz dicht neben sich, an seiner Seite.
Ungewohnte Polaritäten, die er in seinen Texten bescheibt, sind wie die Wände seiner Lebens-Räume. Semantische Ketten hallen wie seine Schritte und Rufe in ihnen. Die emotionale Klugheit der Worte, das Lyrische in Text und Gesang, das zerbrechlich Tastende seiner minimalistischen, präzisen Bewegungen, Musik und Klanggestaltung (von Kutin | Kindlinger), der Raum (von Philipp Gehmacher und Lukas Kötz), die Kostüme (von Anna Schwarz) und das zurückhaltende, dadurch umso beredtere Lichtdesign (von Bruno Pocheron) füllen mit Poesie die Szenerie.
Viele Fragen, die zu alles anderem als einer Gewissheit führen, und wenn, dann der, dass es immer wieder anders kommt, immer wieder zurück, zwischen die Dinge und an deren Seite geht, und dass trotzdem jedes Teil auch wieder eines ist, das zum Ganzen gehört und zu ihm führt. Seine starke Präsenz entsteht er aus einer so offen präsentierten Verwundbarkeit. Seine Kraft bezieht er aus seiner Unsicherheit. Loslassen, Entgleiten, Halten wollen, Zweifel, endlich eine Form erkennen oder schaffen, ein Ziel, oder wenigstens ein Weg. Gewissheit wird zum Sehnsuchtsort, Sicherheit zur Chimäre. Der Unschärfe aller Existenz gibt Gehmacher ein Bild. Eines, das unser Herz vollendet im Wissen um die Absichtslosigkeit des Seins.
Philipp Gehmacher mit „In its Entirety“ am 5. und 6. November 2021 im Tanzquartier Wien