Die Geschichten sind uns im Tanz ausgegangen. Die kleine Zahl der Choreograf*innen, die sich im letzten Jahrhundert noch daran gemacht haben, neue Themen für ihre Ballette aufzunehmen, ist mittlerweile weiter geschrumpft. Die Eilfertigkeit, mit der Tanzschöpfer*innen heute ihren Abstand vom Storytelling betonen, erweckt mitunter den Eindruck, dass es im 21. Jahrhunderts nahezu ehrenrührig sei, einem Narrativ zu folgen. Die Wiederaufnahme von „Onegin“ von John Cranko, einem der letzten großen Erzähler durch den Tanz, mit dem Wiener Staatsballett beweist das Gegenteil und legt gleichzeitig den damit verbundenen Zeitgeist frei.
In Russland gilt der Versroman „Eugen Onegin“ von Alexander Puschkin (1799 bis 1837) als modernes Nationalepos, das in der Vertonung von Piotr Illjitsch Tschaikowsky weit über das russische Reich hinaus Bedeutung erlangte und bis heute eines der meist gespielten Werke der Opernliteratur ist. Darin, wie auch im Ballett, wird die Geschichte der Titelfigur als eine Art Anti-Held erzählt, die sich in Beziehung zu einer Frau, Tatjana, entfaltet. Der Großstadt-Dandy Onegin ist Erbe eines Landgutes und hält sich daher eher wider Willen auf dem Land auf. Er folgt der Einladung seines Freundes Lenski auf das Gut seiner Verlobten Olga. Das ländliche Treiben langweilt den St. Petersburger, auch Olgas Schwester Tatjana kann seine Arroganz nicht brechen. Dennoch verliebt sie sich und gesteht ihm ihre Liebe in einem Brief. Bei der nächsten Begegnung versucht Onegin ihr klar zu machen, dass er keinesfalls ihre Gefühle erwidert und zerreißt den Brief. Gleichzeitig beginnt er ungeniert mit Olga zu flirten und weckt damit die leidenschaftliche Eifersucht von Lenski, der ihn zu einem Duell fordert, bei dem Onegin seinen Freund erschießt. Zehn Jahre später trifft er Tatjana wieder, diesmal im eleganten Petersburger Salon ihres Gatten, des Fürsten Gremin. Nun erwacht in ihm das Begehren nach ihr, die ihn erst kühl zurückweist. Er schreibt ihr einen Brief, es kommt zu einer intimen Begegnung, in dem die alte Liebe in ihr wieder aufflammt, der sie allerdings widersteht. Nun ist es an ihr, seinen Brief zu zerreißen.
Nicht die Musik der Oper, sondern eine Mischung unterschiedlicher Musikstücke werden in der Ballettversion von John Cranko gespielt. Kurt-Heinz Stolze hat Ausschnitte wenig bekannter Werke zu einer Collage zusammengefügt, die die Erzählung musikdramaturgisch unterstützt. Und er hat dabei nicht an Pathos gespart: Die Soundkulisse begleitet das Ballett, baut sich in Momenten des Konfliktes – und davon gibt es hier einige – bedrohlich auf, lässt nach, steigert sich wieder. Das Orchester unter der Leitung von Johannes Witt bringt die Melodramatik wie in einem Stummfilm vollmundig zum Klingen.
Diese Musikdramaturgie zusammen mit der Ausstattung von Elisabeth Dalton verweisen das Ballett aus dem Jahr 1967 eindeutig in die Entstehungszeit. Sehr viele Nachahmer hat Cranko bei diesem Thema übrigens nicht gefunden. Boris Eifman wagte sich 2009 an den Stoff und John Neumeier nannte seine Version zur Musik von Lera Auerbach „Tatiana“ (2014).
Was bis heute Bestand hat, ist Crankos Choreografie, die zeitlos jene Gefühlen einzufangen vermag, die die Personen zu ihrem Handeln motiviert, allen voran die Pas de deux von Tatjana zu Onegin, zuerst als Traum, in der sich die Teenager-Liebe von Tatjana mit Onegin erfüllt, dann als eine konfliktträchtige Begegnung der Erwachsenen, die zwischen Reue, Liebe und Ablehnung oszilliert.
Hyo-Jung Kang verkörpert diese emotionale Achterbahn mitreißend überzeugend. Die in dieser Saison von Stuttgart nach Wien gekommene Erste Solistin kennt „ihren Cranko“. Mit ihr wird auch klar, dass in dieser Geschichte Tatjana im Mittelpunkt steht und eine für das 19. Jahrhundert überaus selbstbewusste Frau repräsentiert. Sie wird aktiv und schreibt an Onegin, ihre spätere Zurückweisung mag schmerzhaft sein und ist doch ein Befreiungsschlag. Heraufordernd schaut sie ins Publikum, nachdem sie Onegin ihres Hauses verwiesen hat. Auch dessen Rolle war mit dem Stuttgarter Jason Reilly besetzt und damit hatte man mit diesem bestens aufeinander eingespielten Paar eine Idealbesetzung.
Im Duett mit Igor Milos als Fürst Gremin verkörpert Kang die liebende Gattin mit einer selten gesehenen Intensität. Hier wird Tatjanas Entscheidung für ihren Mann und gegen Onegin bereits angelegt.
Und das gesamte Ensemble glänzte an diesem Abend: Aleksandra Liashenko als fröhlich-kokette Olga ebenso wie Denys Cherevychko als hitzköpfiger und sturer Lenski. Das Corps präsentierte sich in Hochform und meisterte etwa die Anordnungen der Polonaise mit präziser Linienführung.
Sie alle brachten an diesem Abend dieses Ballett erneut zum Leben und zum Vibrieren und bewiesen, dass es nicht nur kulturhistorische Gründe gibt, diesen „Onegin“ zu pflegen.
PS: Mit seinem Roman, den er zwischen 1823 und 1830 schrieb, nahm Alexander Puschkin übrigens in gewisser Weise seine eigene Geschichte vorweg. Auch er starb im Duell gegen einen vermeintlichen Rivalen. Ausgerechnet der Ehemann ihrer Schwester machte Natalija Puschkina in auffälliger Weise den Hof und soll laut Gerüchten mit ihr eine Affaire gehabt haben. Es kam zum Duell, in dessen Folge Alexander Puschkin 38-jährig verstarb. Und eine weitere kuriose Namensähnlichkeit gab es zwischen der Dichtung und dem realen Leben. Hieß Onegins Widersacher Lensky, so hatte Natalija Puschkinas zweiter Mann einen ähnlich klingenden Namen: Lanskoi.
Wiener Staatsballett: „Onegin“ am 28. Dezember in der Wiener Staatsoper. Weitere Vorstellungen 2022: am 4. Jänner mit Ioanna Avraam (Tatjana) und Eno Peci (Onegin), am 7. Jänner mit Ketevan Papava (Tatjana) und Marcos Menha (Onegin). Am 11. Jänner gibt die langjähre Erste Solistin Nina Polaková als Tatjana an der Seite von Eno Peci ihre Abschiedsvorstellung mit dem Wiener Staatsballett.