Als Lucinda Childs vor über zehn Jahren mit der Neueinstudierung ihres bahnbrechenden Stückes „Dance“ im Wiener Tanzquartier gastierte, habe ich mir gewünscht, ein Werk dieser bedeutenden Choreografin der Postmoderne beim Wiener Staatsballett zu sehen. Et voilà: „Concerto“ zur Musik von Henryk Mikołaj Górecki war eine ideale Wahl für das Haus am Ring.
Lucinda Childs einfache und gleichzeitig komplexe Konstellationen sind Zeit in Bewegung. Trotz der metrischen Exaktheit fließt die Choreografie quasi organisch durch die Tänzer*innen. Kaum merkliche Veränderungen in den Bewegungsmustern, gepaart mit komplizierten und subtil erscheinenden Richtungswechseln ziehen die Betrachter*innen in einen dynamischen Sog. „Concerto“ ist auch beinahe 30 Jahre nach seiner Entstehung frisch und knackig, die Eleganz der Childschen Tanzsprache ungebrochen.
Auf der hellen Bühne kommen die Tänzer*innen in den schwarzen Unisex-Kostümen optimal zur Geltung. Das prägnante Stück dauert gerade einmal neun Minuten und wird von Marie Breuilles, Natalya Butchko, Laura Cislaghi, Sveva Gargiulo, François-Eloi Lavignac, Duccio Tariello und Daniel Vizcayo konzentriert und gleichzeitig leichtfüßig getanzt. Die Umsetzung steht – nach meiner Erinnerung – dem Auftritt der Lucinda Childs Company im Rahmen von ImPulsTanz im Volkstheater im Jahr 2000 um nichts nach.
Dem klassischen Idiom verpflichtet, aber gleichermaßen spritzig, wurde der Abend von Hyo-Jung Kang und Davide Dato in „Other Dances“ von Jerome Robbins eröffnet: lebhaft, in inniger Beziehung zueinander, Freude verströmend. Die Ausstattung im hellen Blau liefert einen idealen Rahmen für den Pas de deux, dessen Bestandteile (Entrée, Pas de deux, Solovarationen und Coda) auf fünf Mazurken und einen Walzer von Frédéric Chopin – wunderbar gespielt von Igor Zapravdin – aufgeteilt sind. Robbins setzt ganz auf die Musikalität der Tänzer*innen und diese Vorgabe wurde von den beiden bestens erfüllt. Außerdem sind sie ungemein spielerisch unterwegs: Man hört Hyo-Jung Kang förmlich jauchzen, wenn Davide Dato sie aus den lichten Höhen der Hebung abrupt in seine Arme fallen lässt. Da bleibt sogar die Wiederholung noch prickelnd!
Nach der Pause ging es lyrisch weiter. Der titelgebende „Liebeslieder Walzer“ von George Balanchine kehrte nach 30 Jahren wieder auf den Spielplan der Wiener Staatsoper zurück. Das Werk entstand 1960 für das New York City Ballet, kam 1977 auf Betreiben des damals frisch gebackenen Ballettdirektors Gerhard Brunner nach Wien, wo es bis 1991 53 Mal auf dem Spielplan stand. Das Kammertanzspiel ist in einer barocken Salonatmosphäre mit Biedermeier-Sofas und Kronleuchtern eingebettet (Ausstattung: Rolf Langenfass). Als Hommage an die Spätromantik stecken die Tänzer*innen im ersten Teil in biedermeierlichen Kleidern, darunter blitzt die Rüschen-Unterwäsche immer wieder hervor. Sie tragen Schuhe mit kleinen Stöckeln (Kostüme: Karinska).
Balanchines Choreografie ist sehr zurückgenommen, keine Virtuosität, keine Emphase, aber auch wenig Spannung. Das liegt nicht an den Tänzer*innen, denn Roman Lazik agiert als galanter Kavalier für Claudine Schoch, Denys Cherevychko ist ein umsichtiger Partner für Elena Bottaro, Zsolt Török steht Liudmila Konovalova elegant zur Seite und Maria Yakovleva und Masayu Kimoto bilden das harmonische vierte Paar.
Die Pas de deux sind manierliche Begegnungen zu „Liebeslieder-Walzer“ von Johannes Brahms. Balanchine selbst lieferte für das zweiteilige Ballett ausnahmsweise eine Erklärung mit: „Im ersten Teil sind es Menschen, die tanzen. Im zweiten Teil sind es ihre Seelen“. Als Seelen tragen die Damen leichte Kleider und Spitzenschuhe und die Pas de deux sind ebenfalls luftiger und mit Hebungen versehen.
Am Ende des Zyklus „Neue Liebeslieder“ kehren sie in den ursprünglichen Kostümen wieder auf die Bühne zurück und lassen zuhörend die Musik für zwei Klaviere (Stephen Hopkins und Sarah Tysman) und vier Sänger*innen (Johanna Wallroth, Stephane Maitland, Hiroshi Amako, Ilja Kazakov) verklingen: „Nun, ihr Musen genug!“ heißt es da im Text von Johann Wolfgang von Goethe. Man mag dem nach beinahe einer Stunde nicht widersprechen, zumal das Publikum schon nach dem ersten Teil dachte, das Stück sei aus. Denn in der Umziehpause hat man minutenlang nur die leere Bühne vor sich.
Und so schloss der Premierenabend, der so anregend begonnen hatte mit einer, ja doch, musealen Note.
Wiener Staatsballett: „Liebeslieder“. Premiere am 14. Jänner 2022 in der Wiener Staatsoper. Weitere Vorstellungen am 24., 28., 31. Jänner, 3., 21., 26. Februar, 1. März