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lewisErst Anfang November war Ligia Lewis, gemeinsam mit Mark Barden, mit ihrer Performance „Sensation 1“ am selben Ort zu sehen. Nun hält sie mit der Österreichischen Erstaufführung ihrer im letzten Jahr entstandenen Arbeit „A Plot / A Scandal“ der bürgerlichen Gesellschaft einen Spiegel vor. Das slapstickhafte Spiel mit Historie, tradierten Werten und gewohnten Narrativen endet im Trauma.

In sechs Teile gliedert Ligia Lewis die Performance: „Prelude“, „Plot 1: John Locke“, „Plot 2: Rebellion“, „Intermezzo: John Locke cleans up his mess“, „Plot 3: Story of Lolon / fuck up the plot“ und „Outro: Repair?“. Wesentlich also scheint der englische Arzt und Philosoph John Locke (1632-1704). Er gilt als Vordenker der Aufklärung und Vater des Liberalismus. Seine Philosophie beeinflusste die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, die Verfassungen der Vereinigten Staaten, Frankreichs und in der Folge vieler weiterer liberaler Staaten. Kerngedanken seiner Philosophie sind einerseits, dass alle Erkenntnis nur durch Erfahrung möglich werde und „dass eine Regierung nur legitim ist, wenn sie die Zustimmung der Regierten besitzt und die Naturrechte Leben, Freiheit und Eigentum beschützt. Wenn diese Bedingungen nicht erfüllt sind, haben die Untertanen ein Recht auf Widerstand gegen die Regierenden.“ Dieses Wissen ist fundamental für das Verständnis des Stückes.   

Alles greift sauber ineinander. Der Boden ist mit rechteckigen Platten ausgelegt. Kupferbeschichtet. Verschieden weit gealtert, entsteht ein vieldeutiges Bild. Für Erde, die Ausbeutung von Bodenschätzen, das Geld als Antrieb und Ziel allen Handelns, und für die partielle, teils fortgeschrittene Korrosion der geistig-moralischen Fundamente unserer Gesellschaft. Hinten hängt eine lange Blondhaar-Perücke, rechts, vor dem Paravent, ein paar Kleider. 

Sofortige Stille, als sie plötzlich erscheint. Eine ungelenke Verbeugung, ganz vorn. Umkleiden in weißes Hemd mit nackten Beinen. Wackelnder Po und stampfende Schritte. Afrikanischer Tanz könnte das sein. Aber gebrochen. Sie dreht die Zeit zurück mit Hüpfen rückwärts im Kreis, verängstigt, erschrocken, getrieben und widerständig. Zu Fetzen von Sound und provokantem Blick ins Publikum schlägt sie ihre Faust auf die Brust, stampft, das blutrote Licht des Scheinwerfers gedreht ins Publikum, in dessen Mitte, schnalzt, provoziert. Unten dann: „Das ist eine Geschichte über dich/euch und mich, über Land und Eigentum.“ Eine Leuchtschrift „Revenche“ (Rache) flackert am Rand. Barocke Tanzschritte, persifliert zum Cembalo.lewis2

Vögel zwitschern und „John Locke enters“. Sie zieht ein Schwert. Mit männlicher Barock-Perücke und Umhang, „Revenge“ leuchtet auf der Bühne. Kirchenglocken zum Quietschen ihres Hinterns auf dem Boden. „Plot“ steht dort zu lesen. Lasziv bewegt sie sich zur Flötenmusik, das Schwert in der Hand, und tritt silberne Totenschädel mit Füßen. Die Rache fordernde Schrift erschlägt sie. Nur noch in Slip und BH kitzelt sie sich eine Brustwarze und tanzt. Die Kirchenglocken durchdringen den lauten Sound wie christliche Moraldoktrin das Animalische in uns. Sie hat ihre Hand im Slip.

Groß ist der schwarze Sklave (Justin Kennedy) mit Mozart-Perücke und in Reizwäsche, der Essen in der Mikrowelle aufwärmt und es ihr vorgebeugt mit aufgerissenem Mund serviert. Sie stopft beim Reden, beteiligt auch das Publikum an ihrer Völlerei. „Wild Thing“ singt und spielt sie mit, lautlos, mit der Luftgitarre. Selbstvergewisserung, die Scham und nagende Selbstzweifel übertönt.

Im Kegel des Laserlichts zum lauten, schnellen Sound beginnt sie auf Knien die „Rebellion“. Die Rache leuchtet hell, hinten lodern Feuer im roten Nebel. „John Locke retires“. Sein geistiges Erbe? „Live, Liberty and Property.“ Justin schwingt Lockes Kopf auf einem Stab. Die Kolonien des 17. Jahrhunderts und deren Sklaven betreffende Gesetze werden verlesen und als Laufschrift über den Boden gerollt wie die Proklamation der Menschenrechte. Nur dass es eben diese nicht waren, sondern Besitz-Rechte. Von den Rebellionen des 19. Jh., dem Zeitalter der Revolutionen, berichten sie, in Grenada, St. Lucia, Haiti. Die vielen Jahreszahlen dann markieren Daten von Auf- und Widerständen gegen Sklaverei.

Als John Locke sein Durcheinander aufräumt, leert Justin die Bühne, bricht Lücken in die Ordnung der Bodenplatten, staubsaugt, auch über den Köpfen des Publikums. Kurz einmal erscheint Corey Scott-Gilbert im schwarzen Techniker-Dress mit Rokoko-Perücke, hilft beim Aufbrechen der Fundamente. Zu Cembalo und elektronischem Sound (von George Lewis Jr aka Twin Shadow und Wynne Bennett) hüpfen sie die Moves dieser Zeit.

„Rest“ steht auf einer der verbliebenen Platten, zweideutig für übrig Gebleibenes und Ausruhen. Nebel und Stille. Ligia Lewis erscheint im offenherzigen blauen Kleid mit Stock. „Könnte es sein, dass es etwas mit uns selbst zu tun hat?“ Sie spießt ein Brust-Skelett auf. 1898, als ihre Großmutter, ihr Leitbild im Widerstand, geboren wurde, dort auf Hispaniola, war all das Land noch nicht Eigentum. Noch nicht. Sie redet viel, von den Schwarzen in den USA und anderswo, von christlichen Traditionen und fragt, ob es möglich sein könnte, dass sie uns zu einer anderen Form von Leben einladen. „Geister sterben nicht so leicht. Glücklicherweise.“ 

lewis1Sie zitiert afrikanische Tänze zu Saxophon und elektronischen Klängen. Elegisch die Musik, als sie ihr blaues Kleid über den Kopf zieht, wo es wie ein langes Kopftuch hängen bleibt. Ihr Leotard darunter ist mit indigenen Mustern bemalt. Ihre dunkle Haut und ihre Kultur kann sie nicht ablegen, nicht verleugnen. Mit weißer Farbe bestreicht sie sich Körper und Gesicht. Ihre dunkle Haut bleibt in Fragmenten sichtbar. Wütend wirft sie die Bodenplatten im pulsierenden Sound. Auf „Rest“ bleibt sie erschöpft sitzen. In Dunkelheit und Stille. Ein Bling und helles Licht ins Publikum. Auf dass uns ein solches aufgehen möge!

Ein aufwühlendes Ende gestaltet die in der Dominikanischen Republik geborene und derzeit in Berlin und Los Angeles lebende Choreografin und Tänzerin Ligia Lewis. Sie zwingt uns in die Empathie, in die Perspektive der Betroffenen, in das Fühlen ihres Traumas, das das so vieler Farbiger auf der ganzen Welt ist. Aus den Resten europäischer weißer christlicher Kultur, exportiert in alle Welt per Kolonialisierung und Missionierung, und aus den Nachwirkungen der Versklavung und Deportation von Millionen Afrikanern, die über Jahrhunderte das Selbstwertgefühl nicht-weißer Menschen untergruben, zeichnet Lewis das Bild von psychischem Erben, die die Traumata von vielen Generationen in sich eingegraben spüren. Der anhaltende latente und der offene, unverblümte Rassismus der Weißen dieser Welt verhindern oder erschweren individuelle und gesellschaftliche Heilung.

Der Skandal als etwas, über das man sich aufgrund moralischer Werte empört oder entrüstet. Er zeigt Grenzen auf, die überschritten wurden. Welche Grenzen das sind und wo sie liegen, ist wesentlich für die Beschreibung von Werten und Normen einer Gesellschaft. Mit viel Humor, Witz, Slapstick und beißender Ironie, alles vor bitterernstem Hintergrund, brillant getanzt und gespielt, und vor allem aus dem Bewusstsein einer ungeheuren Dringlichkeit heraus gestaltet Ligia Lewis „A Plot / A Scandal“ zu einer leidenschaftlichen Anklage des Fortschreibens einer Geschichte von Unterdrückung, Ausbeutung und Rassismus, die von der Ungleichheit der Menschen handelt und lebt. Eurozentristische, neokolonialistische Doppelmoral, die Lüsternheit der vermassten Individuen, die im Ausbruch ihre verdeckten Sehnsüchte ausleben (lassen) und gleichzeitig kurze Befriedigung genießen beim Spüren einer moralischen Überlegenheit, darin liegen die Skandale, die allerdings wegen der anhaltenden ökonomischen Vorteile für den Westen, wegen der durch die Auslagerung von ökologischen Sünden so angenehmen Unsichtbarkeit der Konsequenzen eigenen Handelns und Lebens als solche gern übersehen werden.

Das Gewohnte, Gewöhnliche ist skandalös. Und das Eindringen einer, ihrer fremden Kultur in die unsere. Und hier zeigt sich: Es ist unser aller, unser gemeinsames Trauma.

Ligia Lewis mit „A Plot / A Scandal“ am 17.02.2023 im Tanzquartier Wien.

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