Sehenswerte Bilder austauschbarer Bedeutung. Sasha Waltz, soeben 60 geworden, ist zwar nicht jene Choreographin, der, „vor allen anderen“, das Verdienst zukommt, zeitgenössischen Tanz in Deutschland populär gemacht zu haben, wie jüngst ein offenbar maßlos lokalpatriotisch gestimmter Autor des Rundfunks Berlin-Brandenburg verkündete. Aber sie ist eine erfahrene Bewegungs- und Bildschöpferin und Leiterin eines kleinen, feinen Ensembles. Beides – Waltz‘ Theaterkönnen und „Sasha Waltz & Guests“ – machen „Beethoven 7“ sehenswert. Trotz der unerfüllt bleibenden Versprechen der Inszenierung.
Einige wenige, choreographisch kostbare Minuten lang ist „Beethoven 7“, aufgeführt im Berliner „Radialsystem“, auf dem Weg zu einem großen Wurf. Nach der Pause, im jetzt bis auf die Ziegelsteinmauern freigelegten Bühnenraum, werden zum ersten Satz der siebten Sinfonie die Tänzerinnen und Tänzer zu sozialen Wesen, zu, mit Beethoven, „ächten“ und „wahren“ Menschen: Offene Blicke begegnen sich, man lächelt, insbesondere einander zu, umarmt, stützt und ermuntert, tröstet und behütet einander, die Choreographie wird „rund“ und heiter, die Kostüme hell, und die leichten, bodenlangen Kleider der Damen schwingen weit aus, als wüssten sie, was Lebensfreude ist. Der Tanz legt alles auf sich selbst Bezogene ab, ist ausschließlich Tanz mit dem Gegenüber, ob Individuum oder Gruppe, und alles atmet gegenseitige Achtung, Empathie und das Beflügelnde einer Freude am Sein und Da-Sein, die durch Gemeinsamkeit und Teilen entsteht.
Durch diesen Beginn nach der Pause erhält das, was die Aufführung dem Publikum zuvor zugemutet hat, erst eigentlich Sinn und Bedeutung. Vor der Pause traktierte 37 Minuten lang eine elektronische Komposition von Diego Noguera zunächst die Ohren, bevor sie, mit zunehmender Intensität ihrer Beats und Bässe, auch in die Rampen der Tribüne, in die Stühle und endlich in die Körper der Zuschauer fuhr: Eine Wolke aus bedrohlich dröhnendem, wummerndem Instrumental- und Naturklang und betäubendem Rhythmus, gewaltig und gewalttätig zugleich. Dazu: Eine tatsächliche Wolke aus der Eismaschine, die in einem düsteren, dystopisch wirkenden Raum den Blick auf seltsam staksige Wesen freigab mit einem Kopfputz, der an HR Gigers „Alien“ erinnert, die sich eckig, zitternd, brüchig und multizentrisch bewegen, ohne Körpermitte und fern des aufrechten Gangs, Einzelne und Vereinzelte auch dann, wenn sie als Gruppe agieren und ihre Bewegungsmuster scheinbar einem gemeinschaftlichen Ritual folgen.
Alles im Auftaktteil des Abends verbreitet die Anmutung gestörter, zerstörter Beziehungen, kaputter Existenzen, Seelen und Gefühle – und bildet so den thematisch gegensätzlichen Grund, auf dem die Aufführung im ersten Bild nach der Pause zu Beethovens befreiender und die Freiheit feiernder Musik die Vision einer anderen, besseren Welt und Gesellschaft entwirft. Der düstere erste Teil des Abends (zur „live“ an der Computermusikmaschine generierten Musik und in Kostümen Federico Poluccis) und der lichte Beginn des zweiten (zu einer Musikkonserve und kostümiert von Bernd Skodzig) nähren durch ihre aufeinander bezogene Gegensätzlichkeit die Erwartung, dass das hochmögende inhaltliche Versprechen der Inszenierung aufgehen könnte: In „Beethoven 7“ will Sasha Waltz nichts weniger als dem Gegensatz von persönlicher Freiheit und gesellschaftlichem Zwang nachforschen. Dann aber geht die Aufführung weiter, und das Thema bleibt Andeutung, meist gar nur Behauptung, verpufft in – wenn auch sehenswerten – Bildern austauschbarer Bedeutung.
Die Sätze zwei und vier der Sinfonie hat Sasha Waltz bereits 2021 choreographiert, für ein Beethoven-Projekt des Senders Arte zur „dank“ Corona verspäteten Feier des Beethoven-Jahres 2020. Sie entstanden für das antike Theater im griechischen Delphi – und sie wirken jetzt, weiterentwickelt zu einem Teil der Choreographie der kompletten Sinfonie, wie aus dem Rahmen gefallen, als gehörten sie nicht zu dem thematischen und choreographischen Spannungsbogen, der den ersten Teil des Abends und den Beginn des zweiten verband.
Mit dem trauernden Allegretto des zweiten Satzes, dem retardierenden Moment im bestimmenden Jubel der siebten Sinfonie, verändert sich die Qualität der Choreographie hin zu räumlich und gestisch weit ausgreifender, aber bloßer Form. Die Tänzerinnen jetzt in schwarzen Röcken über fleischfarbenen Trikots, die Tänzer in schwarzen Hosen bei nacktem Oberkörper, agieren von nun an überwiegend als Gruppen unterschiedlicher Größe, einmal versetzt seriell choreographiert, dann gegeneinander gestellt, einmal ineinander verschränkt, dann unisono geführt. Sie gehen oft und vehement, powerwandern weite Wege, rasch, zuweilen rasend den Impulsen der Musik folgend, wobei ihre homogen synchronisierten Arme und Hände die dominierenden Ausdruckswerkzeuge der Choreographie sind, ob klagend gen Himmel erhoben oder halbrund in die Taille gepresst, ob einem verfremdeten klassischen Port de bras ähnelnd oder der Bewegung eines Speerwerfers, jedoch mit Händen, die mit gespreizten Fingern einen Strahlenkranz formen. Die Bildmotive und choreographischen Muster sind auf „große“ Wirkung hin angelegt, wenn eine weiße Fahne seidig schön (aber nichtssagend) über die Köpfe weht, wenn die Gruppe als Ganzes schwingt und dreht und hüpft und stampft – doch wirken im Berliner „Radialsystem“, wo sich Theater ohne Distanz ereignet, oft erstaunlich sportiv und schlicht.
Womöglich fehlt der Choreographie hier, in engster Tuchfühlung zwischen Bühne und Publikum, das Weite und Offene des Ortes, für den sie geschaffen wurde – vielleicht auch nur die Weite und Sehdistanz einer traditionellen Theaterbühne. Und so hat der Abend in diesem Teil seine stärksten Momente in kurzen und kürzesten Soli und Duetten, die augenblicksweise aus dem Dauertutti der Choreographie hervorlugen: Wenn zwei Männer einander auffangen, zwei Frauen sich halten, oder eine Tänzerin (deren Part womöglich nur ein Verlegenheitsentwurf ist, um zwischen zwei Sätzen den abtretenden anderen eine kurze Pause zu gönnen) sich in der Schnörkellosigkeit ihres berührenden trauernden Ausdrucks als eine Nachfahrin der Mutter aus Jooss‘ „Grünem Tisch“ offenbart.
Die Null-Distanz zwischen Publikum und Bühne im Berliner „Radialsystem“ ist freilich zugleich einer der Pluspunkte der Aufführung. Dreizehn Tänzerinnen und Tänzer, der Kern der je nach Produktion in unterschiedlicher Größe auftretenden „Sasha Waltz & Guests“, bilden nicht nur ein grandios tanzendes Ensemble, sondern auch ein Kollektiv bemerkenswert individueller Charaktere, dem man hier – anders als vor Jahresfrist in der Staatsoper Unter den Linden – quasi schweißtropfennah begegnet. Manche Auftritte ereignen sich nicht nur unmittelbar vor den Füßen der Zuschauer und Zuschauerinnen der ersten Sitzreihe, sondern setzen auch den direkten Augenkontakt ein – und ziehen mit der angeblickten Person das gesamte Publikum ins tänzerische Geschehen hinein. Jede und jeder fühlt sich gemeint und angesprochen – wenn auch die Inszenierung selbst ihr hoch gestecktes Thema da längst aus dem Blick verloren hat.
Sasha Waltz & Guests, Berlin: „Beethoven 7“ von Sasha Waltz. Uraufführung am 11. März 2023, gesehene Vorstellung: 12. März 2023.