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martin puttkeDies ist der Auftakt einer tanz.at-Serie über das Thema Ballett- und Tanzpädagogik mit Martin Puttke, einem der angesehensten und innovativsten Ballettpädagogen, der mit seiner Methode die klassische Tanzausbildung auf wissenschaftliche Grundlagen stellt. Aus aktuellem Anlass nehmen wir in der ersten Folge der Interviews noch einmal auf die spezifische Wiener Situation Bezug.

Die Ausgangslage

Natürlich war es zu erwarten: der Ruf nach Abschaffung der klassischen Ballettausbildung angesichts der aufgedeckten Missstände an der Ballettakademie der Wiener Staatsoper. Diese Forderung ist ebenso absurd als würde man die klassische Musikausbildung in Frage stellen. Denn das klassische Training ist nach wie vor die beste Körperschulung für den fordernden Beruf des Tänzers.

Diese falsche Schlussfolgerung wird von der Perpetuierung und Verteidigung der brutalen Methoden durch einige Tänzerinnen genährt. Und die Optik mag auch – völlig unbeabsichtigt – aufgrund der zeitgleichen Ausstellungen im Theatermuseum entstehen. Dort widmet sich einerseits die Ausstellung „Alles tanzt“ der Wiener Tanzmoderne (bis 10. Februar 2020). Andererseits ist ab 16. Mai "Die Spitze tanzt. 150 Jahre Ballett an der Wiener Staatsoper“ zu sehen. Da mag der Eindruck entstehen, dass es sich hier um Parallelwelten handelt, die man gegeneinander ausspielen kann. Das war tatsächlich in den Anfängen des 20. Jahrhunderts der Fall, als die „Modernen“ den Körper und die Bewegungen von Restriktionen befreiten und sich von den „Klassikern“ emanzipieren mussten.

Im 21. Jahrhundert gibt es diese Trennung so jedenfalls nicht mehr. Heutzutage wird auch in modernen, internationalen Compagnien, die kein klassisches Repertoire pflegen, von den TänzerInnen eine solide Ballettausbildung verlangt.

Für eine zeitgenmäße Ballettpädagogik

Martin Puttke vertritt einen umfassenden Zugang, der über stilistische Fragen hinausgeht. Er entwickelt einen Kanon des Klassischen Tanzes auf der Grundlage von wissenschaftlichen Erkenntnissen aus dem Bereich der Biomechanik, der Psychologie und der Neurokognition. Sein System "Danamos-dance.native.motion.system" bricht die zahllosen Übungen der Waganowa-Methode, der anerkannten und weltweit praktizierten danse d'école, auf sieben Grundbausteine (Morpheme) herunter, auf denen alle Tanzbewegungen beruhen. Diese Methode ist für alle Tanzstile und -formen gültig, da die funktionellen Abläufe von Bewegung universell anwendbar sind.

Wir befragten ihn zur Situation der Ballettakademie der Wiener Staatsoper, da er nicht nur einen Blick von Außen hat, sondern dort zwei Jahre lang Pädagogenseminare leitete und daher die Schule auch von Innen kennt.

tanz.at: Wie beurteilen Sie den „Skandal“ an der Ballettakademie der Wiener Staatsoper?

Martin Puttke: Es ist nicht einfach, sich aus der Ferne zu diesen Vorfällen zu äußern, ohne konkrete Kenntnis. Wenn ich es dennoch tue, dann allein ermutigt wegen des Umstands, dass ich vor einigen Jahren mit dem Pädagogenkollegium im Auftrage der Direktorin Simona Noja Weiterbildungsseminare durchgeführt habe und damit das gesamte Kollektiv und die Unterrichtspraxis gut kennenlernen konnte. Darüber hinaus gibt es Sachverhalte, die tiefgreifender und weit über die aktuellen Ereignisse den Hintergrund solcher Verfehlungen und die Anfälligkeit der gegenwärtigen Tanzdidaktik vor allem im Klassischen Tanz für solche Übergriffe offenlegen können. Und das nicht nur in Wien.

Wie oft haben Sie diese Weiterbildungsseminare durchgeführt?

Ich war zwischen 2012 und 2014 etwa 3 oder 4mal, jeweils zu Kurzaufenthalten von 4 oder 5 Tagen an der Schule. In dieser Zeit habe ich ein Einführungsseminar zu Danamos gehalten, Hospitationen in den einzelnen Klassen durchgeführt, inklusive Auswertungen mit den PädagogInnen und einmal eine Jungenklasse eine ganze Woche geführt, um den Lehrern mein Konzept zu demonstrieren. Warum die Zusammenarbeit beendet wurde, weiß ich nicht genau. Eine Intensivierung und Verlängerung der Aufenthaltsdauer war zwar angedacht, aber in meiner Erinnerung aus finanziellen Gründen nicht realisierbar.

War damals Bella Rachinskaya bereits an der Schule? (Anmerkung: Rachinskaya ist eine der drei LehrerInnen gegen die zur Zeit von der Staatsanwaltschaft ermittelt wird)

Bella Rachinskaya war damals schon als Lehrerin tätig. Für mich aus methodischer Sicht gesehen der klassische Fall einer ehemaligen Tänzerin, die ihre physisch-technischen Fertigkeiten und Angewohnheiten mit enormer Verve einfach auf die Schülerinnen überträgt - koste es was es wolle! Sie führte auch eine Jungenklasse, was das Gegenteil von einer klassischen Männerausbildung war.

Wie kann es dabei aber zu derartigen Überschreitungen kommen?

Was öffentlich wurde, ist durch nichts zu entschuldigen und stellt ein schweres Vergehen an den BallettschülerInnen dar, mit der Konsequenz, dass Verursacher und Verantwortliche ohne Ansehen der Person die Folgen zu tragen haben. Aber gleichzeitig ist es im vorrangigen Interesse der "Leidragenden", nun Entscheidungen zu treffen, die das künstlerisch-pädagogische Umfeld maßgeblich verändern, um Überschreitungen jeder Art den Nährboden zu entziehen. Der veröffentlichte Maßnahmenkatalog ist wichtig, ob ausreichend, wage ich zu bezweifeln. Denn hier geht es nicht nur um Übergriffe in einem alltäglichen schulischen Umfeld, sondern um hochspezialisierte Ausbildungsstrukturen, die nicht nur wegen der psychisch-physischen Anforderungen weit über den Sport oder vergleichbare Strukturen hinausgehen. Psychologische, medizinische oder therapeutische Maßnahmen, sowie analoge inhaltliche und strukturelle Aufarbeitung bedürfen eines direkten Bezugs zur Spezifik dieses ungewöhnlichen Ausbildungskonzepts, welches im Kindesalter beginnt und mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter ja bereits endet.

Vielleicht liegt aber auch gerade hier eine große Chance, zu versuchen, ein Übel an der Wurzel zu packen und damit nicht nur den Ballettschülerinnen und Ballettschülern eine ermutigende und erfüllende Ausbildungszeit zu schaffen, aber gleichzeitig der Tanzpädagogik - und damit meine ich nicht nur den klassischen Tanz - etwas auf die "Sprünge" in die Neuzeit zu verhelfen.

Ist Wien ein Einzelfall?

Betrachtet man die konkreten Ereignisse, kann man sicher von einer in dieser Form selten auftretenden Anhäufung der Übergriffe ausgehen und ich würde sie an vielen europäischen, berufsausbildenden Ballettakademien, von denen ich vor allem die deutschen recht gut kenne, ausschließen.

Was aber nicht gleichbedeutend ist mit einer Akzeptanz der bestehenden Ausbildungsinhalte, und -methoden. Denn die Frage ist: was veranlasst eine Lehrerin oder einen Lehrer, im Unterricht buchstäblich "handgreiflich" zu werden und/oder einen psychischen Druck auszuüben, der jeden Ansatz der Erziehung zu künstlerischer Hingabe, Kreativität, Beachtung gesundheitlicher Voraussetzungen, zu Einsatzbereitschaft und Disziplin konterkariert. Ist es der schlechte Charakter oder das Ausleben von pervertiertem Machtstreben? Oder Unfähigkeit, sich mit verändernden Inhalten und Formen der Tanzkunst und adäquater künstlerischer Ausbildung zurecht zu finden? Geschweige denn nach einer Didaktik zu fragen, die kongenial auf gesellschaftliche und künstlerische Prozesse zu reagieren imstande ist. Hier anzusetzen ist vor allem im Wiener Fall sehr aufschlussreich, da ich bereits vor Jahren durch die Direktorin gebeten wurde, mit dem Lehrerkollegium erste Schritte zu einer Revision der praktizierten Ausbildungsmethoden zu beginnen. Ich traf auf ein sehr aufgeschlossenes und kritisches Kollegium. Bis auf einige russische Ballettpädagoginnen, die sich völlig realitätsfern ausschließlich als Apologeten eines vermeintlich ehernen russischen Ausbildungsmodells im Klassischen Tanz verstanden - inklusive einer geradezu selbstverständlichen, physischen und psychischen "Inbesitznahme" der ihnen anvertrauten "Schutzbefohlenen": die Körper an das klassische Modell anpassend, anstatt Methodik oder Psychologie für die konkreten SchülerInnen und im Sinne der physischen, kognitiven und kulturellen Gegebenheiten zu adaptieren. Die Schulleitung in Wien war zum damaligen Zeitpunkt sensibel und entschlossen genug, einen Arbeitsvertrag mit einer dieser Pädagoginnen zu lösen, als ich nach einer Hospitation über völlig inakzeptable psychologische und methodische, dieser Altersstufe in keiner Weise entsprechenden Praktiken und tänzerisch-technischen Aufgaben berichtete. Ein Vorfall und eine adäquate Lösung!

Wozu sich dieser Vorfall aber in keiner Weise eignet: zu einem allgemein Russen-Bashing in der Ballettausbildung, wie ich bei einigen Reaktionen auf die Wiener Vorfälle lesen konnte. Das führt eher in die falsche Richtung, weil es eine vermeintlich kritische Sicht auf Symptome einengt und von bis heute offensichtlich ungelösten, strittigen Ausbildungskonzepten in der Ballettausbildung ablenkt. Ich kenne in Europa, vor allem in Deutschland, viele russische BallettpädagogInnen, die ohne jede Einschränkung in Bezug auf ihr Verhalten zu den ihnen anvertrauten SchülerInnen mit großen Erfolg arbeiten. Auch sie sehen in der Mehrheit die Notwendigkeit, Didaktik und Methodik im Klassischen Tanz aus einer verklärten, "romantischen" Vergangenheit stilistisch und technisch in das 21.Jahrhundert zu überführen. Darüber wird mit aller Offenheit und Bereitschaft zur Veränderung zu sprechen sein.

Fortsetzung folgt.

Die Interviews dieser Serie werden per e-mail geführt.

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