2007 entdeckte Monica Delgadillo den „Community Dance“, heute ist die ehemalige Balletttänzerin Leiterin des Tanzprogramms der Caritas Wien. Die Aktivitäten von „Tanz die Toleranz“ sprechen nicht nur immer mehr Menschen in Wien an, sondern wirken weit über die Grenzen Österreichs hinaus. Choreografen und Choreografinnen des Community Dance Projekts sind mittlerweile am Aufbau ähnlicher Projekte in Moldawien, Transnistrien und Mexiko beteiligt.
Dass die gebürtige Mexikanerin Balletttänzerin geworden war, lag an dem eher beschränkten Angebot an Tanzstilen in ihrer Heimat. Doch die junge Tänzerin war neugierig und buchte vor 15 Jahren einen Flug nach Mailand, „um den Tanz in Europa zu entdecken. Das Tanztheater und die unterschiedlichen Tanzformen haben mich fasziniert“, sagt sie. Also blieb sie, nahm an Auditions teil, hatte Engagements an der Oper in Bremen und am Stadttheater Bremerhaven unter der Leitung von Jörg Mannes und begann zu choreografieren.
Als Royston Maldoom 2007 von der Wiener Caritas eingeladen wurde, um ein Jugendprojekt zu leiten, das im Rahmen der Wiener Festwochen-Eröffnung zur Aufführung kommen sollte, knüpfte er sein Engagement an die Bedingung, dass Community Dance in Wien nachhaltig etabliert würde. (Den Ausschlag für die Einladung der Caritas gab der Film „Rhythm is it“ über das Strawinsky-Projekt der Berliner Philharmoniker. In Wien wurde Modest Mussogskys Komposition „Bilder einer Ausstellung“ vom ORF Symphonieorchester gespielt, 70 Tänzer standen auf der Bühne.)
Während des Probenprozesses gab es Workshops für interessierte Choreografen. Eine der Teilnehmer war Monica Delgadillo, die damals – „wegen der Liebe“ – frisch nach Wien gezogen war. 2009 assistierte sie bei einem Projekt von Tamara McLorg und zwei Jahre später übernahm sie bereits die künstlerische Leitung des Caritas-Projekts „Tanz die Toleranz“, das seither immer weitere Kreise zieht.
Das Programm von „Tanz die Toleranz“ bietet jeden Mittwoch Kurse für Jugendliche, Erwachsene und Kinder, die mittlerweile so populär sind, dass Teilnehmerbeschränkungen eingeführt werden mussten. „Wir hatten fast 100 Leute in der Erwachsenengruppe, dafür reicht der Platz nicht. Bis 60 Teilnehmer nehmen wir auf. Die Erwachsenen haben am meisten Zulauf. Bei den Jugendlichen sind es 25 bis 40 und bei den Kindern 20 bis 30. In all diesen Gruppen arbeiten wir auf ein ganz bestimmtes Ziel, eine Aufführung, hin.“
Darüberhinaus gibt es ein Zielgruppen-spezifisches Angebot, um Hemmschwellen abzubauen. „Bei den zweimonatigen Montagsgruppen setzen wir uns immer zum Ziel eine gewisse Community anzusprechen, sei es durch die Tanzrichtung oder aber unabhängig davon durch eine gezielte Ansprache, zum Beispiel der serbokroatischen Community, der indischen oder lateinamerikanischen Community oder Menschen mit Behinderung. Wir können nicht das ganze Jahr über einen Kurs für sie anbieten, aber zumindest einmal im Jahr.“ Ziel dieser sogenannten „Montagsgruppen“ ist es, Ängste abzubauen und die Teilnehmer der Schnupperstunden einzuladen, in die laufenden Gruppen zu kommen. „Das passiert ansatzweise, aber es ist noch ein Weg zu gehen.“
Ähnlich niedrigschwellig ist auch der „Saturdance“, ein offener Workshop mit verschiedenen Tanzstilen wie Afrikanischer Tanz, Samba, Rumba, indischer und auch zeitgenössischer Tanz, bei dem man sich nicht anmelden muss.
Das Studio der Kurse ist die Brunnenpassage, ein transparenter Raum mitten im Brunnenmarktviertel mit einem hohen Anteil an Einwohnern mit Migrationshintergrund. Kommen die Menschen aus der Nachbarschaft zu „Tanz die Toleranz“ oder sind es doch eher tanzbegeisterte Wierinnen und Wiener?
„Ja, Migranten kommen schon“, sagt Delgadillo, „wobei es schwierig ist, die türkische Community zu erreichen, vor allem die Frauen. Denn es ist ein einsehbarer Raum. Einerseits ist das gut, denn dann sieht jeder, was dort passiert und hat dann vielleicht Lust mitzumachen. Andererseits ist das für bestimmte Zielgruppen nicht gut, weil es keinen geschützten Rahmen bietet. Aber es kommen sehr viele Migranten aus ganz Wien und natürlich auch die kulturell interessierten Wiener, die gerne tanzen. Sie sind auch sehr willkommen, aber wir müssen schauen, dass wir die Balance halten und daher machen wir auch so viel Zielgruppenarbeit, sprich: zu Vereinen und Gruppen zu gehen und sie einzuladen. Wir begegnen allen mit offenen Armen. Bei manchen Communities stoßen wir mit unserer Ansprechen an unsere Grenzen, denn sie kommen nur durch Mundpropaganda.“
„Versteckte Projekte“ nennt Delgadillo die Aktivitäten, die in speziell geschützten Rahmen stattfinden, etwa mit muslimischen Frauen. Da wird dann eine Turnhalle angemietet und die Aufführung findet vor einem ausschließlich weiblichen Publikum statt. „Aber wir hatten auch reine Männerprojekte. Da durfte die Choreografin keine Frau sein, das ging gar nicht, das musste ein Mann sein. Aber die Frauen durften zuschauen, weil sie damit einverstanden waren. Diese Projekte werden nicht publik gemacht, denn es liegt in ihrer Natur, dass sie nur im privaten Rahmen funktionieren.“
Monica Delgadillo und ihr Team respektieren kulturelle Berührungsängste und unternehmen gleichzeitig mutige Schritte, sie zu überwinden. Ein Beispiel dafür war die „Johannespassion“, die sie 2014 mit einer gemischten Gruppe im MuTh zur Aufführung brachte. „Wir haben viele muslimische Teilnehmer, ich wollte daher nicht so sehr auf den Text eingehen, sondern mit Bildern arbeiten, die jeder auf seine Weise lesen kann. Ein bisschen hatte die Lehrerin einer Schule, mit deren Kindern wir gearbeitet haben Angst, was sie jetzt den Eltern sagen soll. Und wir haben ihnen erklärt, dass es sich um ein künstlerisches Projekt handelt, bei dem es nicht um den religiösen Aspekt, sondern nur um die Musik als Kunst geht. Und das hat funktioniert. Das Ziel des Projekts war es ja gerade, dass diese vielen unterschiedlichen Menschen gemeinsam wachsen und Vorurteile abbauen. Viele Teilnehmer hatten zum Beispiel noch nie einen Menschen mit Behinderung so nah gesehen, und schon gar nicht angefasst.“
Community Dance, das ist Kunst, die ein Ziel verfolgt: „Das Ziel ist allgemein, dass die Menschen auf der Bühne eine Gesellschaft repräsentieren, in der alle gleich sind, alle inkludiert sind und niemand besser oder schlechter ist. Natürlich gibt es hier und da ein Solo, aber ich versuche immer, dass jeder Tänzer einen besonderen Moment hat in der Choreografie, wo er auch wichtig ist. Das Ziel ist ja auch das Empowerment, dass die Teilnehmer nach der Aufführung mit dem Gefühl nach Hause gehen, aus eigener Kraft etwas erreicht zu haben. Das ist auch so wichtig bei den minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen. Sie müssen immer das tun, was man ihnen sagt und da ist die Handlungsfreiheit schon eingeschränkt. Da finde ich auch diesen Rollenwechsel sehr wichtig, den sie in unseren Projekten erfahren. Sie nehmen hier nicht nur, sondern geben auch etwas. Sie sind auf der Bühne und zeigen, was sie können, was sie gelernt haben, und sind stolz darauf.“
Wie ist es um die Nachhaltigkeit bestellt? Machen die Teilnehmer nach einem dieser Projekte weiter? „Sie sind immer eingeladen bei unserem Mittwochsprogramm teilzunehmen, und manche nehmen das auch an. Es ist schön wenn sie weitermachen (können), aber ich finde es auch wichtig, wenn sie nur diese eine Erfahrung gemacht haben, denn das vergisst man nicht“, sagt Delgadillo.
Die choreografische Qualität steht in der „britischen Schule“ des Community Dance im Mittelpunkt der Arbeit, denn: „Nur durch die Qualität kann man auch die sozialen Ziele erreichen“. Dabei werden choreografische Elemente vorgegeben bzw. improvisiertes Material in eine Struktur gesetzt. „Bei uns entscheidet immer der Choreograf – man kann darüber streiten, ob das der Choreograf oder die Teilnehmer sein sollten, aber wir machen es so“, erklärt Delgadillo, die sich mittlerweile auch international einen Namen als Choreografin gemacht hat. Im Juni dieses Jahres zeichnete sie zum Beispiel für „Let’s Dance: Carmen“ bei der Eröffnungsgala der Dresdner Musikfestspiele verantwortlich. Und was gewinnt sie persönlich in der Arbeit mit verschiedenen Communities?
„Was mich als Choreografin so bereichert, ist, dass man soviel zurück bekommt. Diese unterschiedlichen Menschen bringen so viele Qualitäten auch künstlerisch. Wir arbeiten auch viel mit Improvisation, und da erlebe ich immer viele positive Überraschungen, und Ergebnisse, auf die ich selbst nie gekommen wäre. Und auch menschlich. Ich gehe nach jeder Probe, auch wenn sie manchmal sehr schwierig ist, mit einem guten Gefühl nach Hause. Das bereichert mein Leben so sehr, sonst würde ich das nicht machen. Denn es ist mitunter auch sehr anstrengend. Und wenn man sieht, wieviele Verbindungen zwischen den Menschen in den Projekten entstehen, dann sieht man, dass diese Arbeit wirklich Sinn macht. Ich liebe es.“
Für die internationale Verbreitung dieser sinnvollen Arbeit bietet die Wiener Caritas Unterstützung beim Aufbau ähnlicher Projekte. „In Moldawien versuchen wir zur Zeit ‚Tanz die Toleranz’ als Projekt aufzubauen. Der erste Teil war, dass wir einen Workshop für interessierte Choreografen gegeben haben, so wie es damals auch in Wien war. Ich habe jeden Tag schwerpunktmäßig verschiedene Arbeiten vorgestellt, z.B. Arbeit mit Jugendlichen, Kindern und Erwachsenen, und auch einen Überblick über Community Dance gegeben. Von den 30 anwesenden Choreografen haben wir drei ausgesucht, die als Assistenten über zweieinhalb Wochen an einem Projekt mitgearbeitet haben. Wir haben mit einer Gruppe mit Kindern und einer mit Jugendlichen gearbeitet und am Ende eine Aufführung in einer Schule gemacht. Und von diesen drei haben wir eine Person ausgesucht, die jetzt zwei Gruppen leitet. Moldawien ist eines der ärmsten Länder Europas, viele Kinder sind dort allein, oder leben bei den Großeltern oder Tanten und Onkeln, denn die Eltern arbeiten in Westeuropa. Ich fahre immer wieder hin um das Projekt zu unterstützen und zu coachen und auch andere Choreografen zu gewinnen.“ Im Sommer gab es auch drei einwöchige Sommercamps für benachteiligte Kinder in Transnistrien und Moldawien, wie schon vor zwei Jahren in der Ukraine. Und Monica Delgadillo versucht auch die Community Dance-Bewegung in ihrer Heimatstadt Guadalajara in Mexiko zu etablieren.
Mit viel Engagement gelingt es den Choreografinnen von „Tanz die Toleranz“ (unter anderen arbeiten Romy Kolb, Alessandra Tirendi, Gisela Heredia mit) auch immer mehr Kooperationen mit Kulturinstitutionen wie dem Festspielhaus St. Pölten, der Konservatorium Wien Privatuniversität, dem Tanzquartier Wien und vielen anderen an Land zu ziehen. Dennoch wünscht sich Monica Delgadillo „mehr Offenheit von manchen elitären Kulturinstitutionen, die auf den Community Dance immer von oben herab anschauen und eine Hierarchie herstellen. Denn wenn wir ein Community Projekt machen, sollte es immer um Qualität gehen, und das ist auch unser Ausgangspunkt. Es sollte einfach einen Platz geben für alles. Ich wünsche mir mehr Austausch und dass mehr Türen geöffnet werden. Denn Kunst sollte einfach für alle sein, nicht nur für die Eliten.“
Das neue Semester von „Tanz die Toleranz“ beginnt am 14. September mit dem Senioren Workshop „TanzZeit“.
Am 16. September finden die ersten Sessions der Mittwochsgruppen statt (KinderTanzKlasse, Youth und Adult Dance Class) und am 19. September gibt es den ersten Saturdance.
Am 1. und 2. Oktober hält Tamara McLorg den Workshop "Introduction to Community Dance" für Choreografen, Tänzer und Pädagogen.