Beim Festival Wien Modern sollten Kinder durch ein Musik-Tanzvermittlungsprojekt die Begegnung mit neuer Musik am eigenen Leib erleben. Bei der Performance „Song of Nature“ war von der im Programmheft erwähnten „anspruchsvolle Choreografie“ nicht viel zu sehen. Sollte aber ein Vermittlungsprojekt nicht ebenso fesselnd sein wie eine professionelle Tanzperformance? Anlass, um auch einmal über die Qualität der Aufführungen im Rahmen von Vermittlungs- oder Community Dance-Projekten zu reden.
In der heutigen Bildungsdebatte wird der Ruf nach Kreativität immer lauter. Längst weiß man, dass unser Schulsystem, das aus dem vorvorigen Jahrhundert stammt, nur mehr bedingt tauglich ist, die Kinder auf eine Zukunft vorzubereiten, von der wir gar nicht wissen, wie sie aussehen wird. Der Wandel kommt mit ungeheurem Tempo daher. Doch trotz zahlreicher Veränderungen heißt Schule noch immer in erster Linie Frontalunterricht und für Prüfungen stucken.
Die Ausbildung, so fordern daher Bildungsexperten, soll den Fokus darauf legen, Kindern Werkzeuge in die Hand zu geben, damit sie auf neue Herausforderungen kreative Antworten und Lösungen finden. „Kreativität ist in der Erziehung ebenso wichtig wie Lesen und Schreiben, und wir sollten ihr den gleichen Stellenwert geben“, sagt der TED-Star Ken Robinson, Pädagoge und Erziehungsberater (unter anderem beim Royal Ballet).
Aber was heißt das: Kreativität?
Neulich erfuhr ich von einem Beamten des Bildungsministeriums in einer Veranstaltung, in der es um Innovation und Kreativität in der Bildung gehen sollte, dass man „Kreativität unterrichten“ solle. Oh…kay? Wie das geschehen sollte, blieb offen. Eine Befürchtung, die bei der anschließenden Diskussion immer wieder zur Sprache kam, ist der Verlust der Kontrolle des Lehrers. Denn oft wird Kreativität mit zügelloser Freiheit verwechselt.
Die Beschäftigung mit Kunst kann bei diesen Themen einen bedeutenden Beitrag leisten. Denn Kunst verlangt nicht nur Kreativität, sondern erfordert auch Disziplin. Bei den darstellenden Künsten kommt dazu der Faktor der gemeinsamen Arbeit auf ein Ziel, die Aufführung hin, das Sozialkompetenzen wie Teamgeist und Empathie auf den Plan ruft. Tanz und Musik haben dabei noch den speziellen Vorteil, dass sie als „sprachlose“ Kommunikation kulturübergreifend und gelebte Integration sein können.
Die kognitiven Benefits sind überaus vielfältig. Es ist daher gesellschaftlich relevant, dass die künstlerische Arbeit mit Kindern, mit Menschen aus sozialen Randgruppen, mit Senioren, als ein kreativer (Lern-)Prozess wahrgenommen wird – auch im Sinne der aktuellen Bildungsdebatte. Damit sie jedoch in der Öffentlichkeit ankommt, muss eine Qualitätsbestimmung vorgenommen werden. Denn im momentanen Boom der „community projects“ herrscht das Motto vor: anything goes.
Vor allem Theater und Festivals, die qualitativ hochprofessionelle Kunst präsentieren, sollten darauf achten in ihren Vermittlungsprogrammen das Niveau nicht zu verwässern. Denn nur mit packenden Performances kann man ein Publikum abseits des Verwandten- und Freundeskreises aufbauen, das die Idee weiterträgt. Ich habe in den letzten Jahren „Community Dance“-Aufführungen gesehen, die so manch „professionelle“ Performance in den Schatten stellen. Meistens, wenn Choreografen für die Arbeit mit Amateuren ausgebildet waren. Denn bei diesen Tänzer muss man die Bereitschaft und die Begeisterung zur Mitarbeit anfachen, muss sie motivieren, sie involvieren, sie trainieren und den Prozess pädagogisch begleiten und ihnen doch auf gleicher Augenhöhe wie Profis begegnen.
Choreografisches Know-how
Warum hat Simon Rattle für sein sensationelles Musikvermittlungsprojekt „Rhythm is it“ nicht einen berühmten Choreografen eingeladen, sondern Royston Maldoom, dessen Name bis dahin in Deutschland unbekannt war? Weil er damit einen Künstler an Bord hatte, der über das nötige, solide Handwerk verfügte, um 250 Kinder (mit „schwierigen“ sozialen Backgrounds) zu motivieren und in einem gemeinsamen Projekt zu integrieren. Denn dieser Choreograf brachte eine 40-jährige Erfahrung mit.
Das Londoner Tanzhaus Sadlers’ Wells geht einen anderen Weg: Dort werden die angesagtesten Choreografen eingeladen mit Amateurgruppen zu arbeiten. Die Begleitung und Endregie erfolgt durch einen „Creative Learning Director“, also eine im Community Dance ausgebildete und erfahrene Choreografen. Diesem Beispiel folgte etwa das Festspielhaus St. Pölten mit „alles bewegt“.
Obwohl hierzulande eine entsprechende Ausbildung in Community Dance (noch) fehlt, gibt es in Wien mit „Tanz die Toleranz“ ein best practice Beispiel, denn die umsichtige künstlerische Leiterin Monica Delgadillo Aguilar bietet ihrem Team regelmäßige Trainingsworkshops mit einschlägigen Choreografen. Um hier nur einige Beispiele zu nennen …
„Songs of Nature“ bei Wien Modern war sicher gut gemeint, konnte mit dieser Qualität aber nicht mithalten. Aus aktuellem Anlass griff der Choreograf Leonard Prinsloo das Flüchtlingsthema auf. Was man dann sah, war eine Adaption der Fernsehbilder der letzten Wochen. Die Kinder/die Flüchtlinge kommen an, werden von den vier mitwirkenden Erwachsenen misshandelt, müssen sich registrieren, fotografieren lassen, der Mund wird ihnen zugeklebt. Die Musik dazu stammte von Olivier Messian, am Klavier meisterlich interpretiert von Hsin-Huei Huang. Zu John Cage-Klängen verwandelte sich die Szene in ein friedliches Bild, in dem die Erwachsenen mit den Kindern zeichneten und spielten. Schließlich gab es zu Debussys „L’isle joyeuse“ noch einen Tanz mit Stofftieren.
Die Kinder – Schülerinnen und Schüler des G11 Geringergasse – folgten brav den Anweisungen, immer wieder mit einem hilfesuchenden Blick auf den Choreografen im Off. Aber waren sie wirklich involviert? Hatten sie Informationen über Bühnenpräsenz bekommen? Warum zupften sie dann ständig an ihren Klamotten herum oder grinsten verlegen, wenn die Geschichte, die sie darstellten, doch alles andere als komisch war? Generell war bei diesem Stück die choreografische Intention nicht erkennbar. Da wurde viel Zeit geschunden, etwa wenn jedes Kind einzeln dem Registrationsprozedere unterworfen wird, jeder einzeln die Filzstifte für die Bemalung der T-Shirts abholt, und in derselben Art und Weise die Stofftiere in Empfang nimmt. Erst wenn sie diese am Ende in die Luft werfen, kommt Leben in die jungen Darsteller.
Ja, ein derartiges Projekt ist „nicht immer ein Honigschlecken“, wie im Programm vermerkt ist. In diesem Fall haben „die Momente der Überforderung und Frustration“ wohl die Oberhand gewonnen. Gerade in solchen Momenten braucht der Choreograf einen „Handwerkskoffer“ mit Werkzeugen, die schwierige Situationen retten können. Diese Tools haben hier offensichtlich gefehlt.
„Songs of Nature“ in der Brunnenpassage am 7. November 2015 im Rahmen von Wien Modern