Macht man sich – weltweit gesehen – auf die Suche nach unverwechselbaren Tanzstilen, so wird man nicht so leicht fündig. Gewiss haben Klassischer wie Moderner Tanz nationale oder persönlichkeitsbezogene Stile entwickelt, dass aber ein einziger Stil besonders herausragt, trifft nur selten zu. Wien ist anders! Hier hat nicht nur Grete Wiesenthal nach 1900 zu tänzerischer Unverwechselbarkeit gefunden, sondern in der Folge auch Tänzerinnen, die diesen Stil weiterführten. Eine dieser Persönlichkeiten – Hedi Richter – feiert am 2. Juni 2016 ihren 80. Geburtstag.
Mit dem Wiesenthal-Stil, den Hedi Richter neben anderen Richtungen des Bühnentanzes zeit ihres Tänzerinnenlebens pflegte, verkörperte sie eine ganz bestimmte Tanzweise, die auch mit jenem Haus verbunden war, dem sie als Solotänzerin angehört hatte: der Volksoper. Aus einem ganz eigenen Verständnis des Zusammenwirkens von Musik und Choreographie entstanden, scheint der Wiesenthal-Stil mit seinem weit ausschwingenden Körper wie von der Musik getragen. Drehungen und kleine Sprünge setzen Akzente ohne das Bewegungskontinuum, das sich entsprechend der Musik dynamisch fortsetzt, zu unterbrechen. Ein ausbalanciertes – wie seliges – über dem Boden gehaltenes Schweben wechselt mit Momenten, die herb zum Boden gerichtet sind. Einzelne Bewegungsmotive entwickeln sich weiter, schrauben sich in die Höhe oder sinken drehend zusammen. Die kontrastreich gebaute Choreographie – auch dies ein Echo der Musik – wechselt zwischen spektakulären Rückenbeugen und kleinen, in paralleler Fußstellung ausgeführten Drehungen, die, wiederum der Musik entsprechend – es sind immer wieder Strauß-Walzer –, zwischen verschiedenen Geschwindigkeiten wechseln. Dabei geht nicht nur der Duktus der Bewegung auf das Kostüm über, das Kostüm wird Teil der in den Raum greifenden Choreographie. Ist dieser Tanzstil nun – von der dunklen Schönheit der Hedi Richter getragen – bloß weitergetragenes Erbe oder eigene persönliche Ausdrucksform?
Tanz als Ausdruck heiteren Seins
Hedi Richter, in Troppau geboren, hatte das Glück, in Wien eine vielseitige und persönlichkeitsorientierte Tanzausbildung zu erhalten. Unter ihren Lehren waren einerseits Künstler, die die Wiener Tanzmoderne kreiert hatten – dazu gehörten Grete Wiesenthal, Rosalia Chladek und Hanna Berger –, andererseits Vertreter des Klassischen Tanzes wie Toni Birkmeyer, Riki Raab und Tamara Rauser. Diese Ausbildung an der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien ergänzte sie durch weitere Studien unter anderen bei Mary Wigman in Zürich und bei Natalia Dudinskaja an der Waganowa-Akademie in Leningrad. Mit dieser vielschichtigen tänzerischen Basis, dazu von glänzender Erscheinung und Temperament, war das Fundament für eine bedeutende Tanzkarriere gelegt. Nach ersten Engagements in der Tanzgruppe Rosalia Chladek und am Raimundtheater wurde Hedi Richter 1955 als Solotänzerin an das Ballett der Wiener Volksoper engagiert, 1965 avancierte sie zur Ersten Solotänzerin.
Das Ballettensemble des Hauses am Gürtel stand zu dieser Zeit unter der Leitung von Dia Luca (1912–1975), somit einer österreichischen Tänzerin, Choreographin, Ballettmeisterin und Pädagogin, die den international gefeierten „Volksopern-Ballettstil“, der insbesondere in Choreographien für Operetten zur Geltung kam, kreiert hatte. Dieser Stil basierte auf Musikalität, szenischem Einfallsreichtum und choreographischem Schwung, er baute wiederum auf dem der Grete Wiesenthal, somit also auf jener Basis auf, die Hedi Richter zu eigen war. Ebenfalls vielseitig ausgebildet, war Dia Luca als Tänzerin Mitglied des Toni-Birkmeyer-Balletts gewesen, der in seinen Walzerchoreographien seinerseits von Grete Wiesenthal beeinflusst war. Nach einem ersten Engagement an der Volksoper, wo sie bereits mit choreographischen Aufgaben betraut worden war, wurde sie als Ballettmeisterin nach Brünn geholt. 1947 gründete sie in Wien das Dia-Luca-Ballett, das in der Folge vorwiegend in Produktionen des Bürgertheaters, Stadttheaters und Raimundtheaters auftrat. 1955 bis 1973 war sie Ballettmeisterin an der Volksoper.
Auf der künstlerischen Verwandtschaft bauend, überantwortete Dia Luca ihrer Ersten Solotänzerin Hedi Richter nicht nur zentrale Aufgaben in ihren Operettenchoreographien, sondern auch Hauptrollen in jenen Balletten, die sie für das Volksopernballett herausbrachte. Zu diesen Partien, die stilistisch verschieden konzipiert waren und somit völlig unterschiedliche Facetten darstellerischer Kunst erforderten, gehörten die Titelrolle in „Das lockende Phantom“, das Weib in „Der Weg“, Susi in „Teenager“, eine Hauptpartie in „Barockes Fest“, Mädchen in „Bodas de Sangre“, eine Tarantellapuppe in „Der Zauberladen“. In Choreographien von Janine Charrat tanzte Hedi Richter Bäuerin und Libelle in „L’Enfant et les Sortilèges“ sowie die Prinzessin in „Der Feuervogel“, in Alan Johnsons Choreographie eine Hauptpartie in „Concerto (in F)“. Darüber hinaus trat sie nicht nur in unzähligen Opern, Operetten und Musicals auf, sondern absolvierte auch Gastspiele u. a. in Paris, London, New York. In den in diesen Jahren so bedeutenden Fernsehproduktionen tanzte Hedi Richter in Hanna Bergers „Die traurigen Jäger“, Rosalia Chladeks „Der Dämon“ und Dia Lucas „Schlagobers“. Des Weiteren war sie in Chladeks Tanzfilm „Gigant und Mädchen“ und in Spielfilmen zu sehen. Weltweites Echo fand Hedi Richter von 1959 an mit ihren Auftritten in den Fernsehübertragungen der Neujahrskonzerte der Wiener Philharmoniker, die, vorwiegend von Dia Luca choreographiert, bis 1975 vom Volksopernballett ausgeführt wurden.
Zu den genannten Rollen an der Wiener Volksoper, der Hedi Richter bis 1980 angehörte, waren es vor allem die an dem Stil der Wiesenthal angelehnten Walzer-Interpretationen, die die Tänzerin berühmt machten. Was aber war das Charakteristische der Wiener Tänzerin Grete Wiesenthal?
Dem Wiener Walzer Körper gegeben
„Die Schwestern Wiesenthal“, so die Stimme eines deutschen Bewunderers der Wiesenthals nach ihrem Debüt in Wien 1908, „sind eine Naturnotwendigkeit geworden.“ Sie hätten „den Schubertschen und Lannerschen Walzern den Körper gegeben“, darüber hinaus aus den Bildern der Jugendstilmaler „die Bewegung gelöst“. Was in Texten (u. a. bei Hugo von Hofmannsthal), in Bildern (bei Ferdinand Hodler, Kolo Moser, aber auch bei Grete Wiesenthals Ehemann Erwin Lang), auf Stoffen (der Wiener Werkstätte) oder in der Architektur (bei Otto Wagner) bereits vorformuliert war, hatte sie körperlich auf die Bühne gebracht. Nicht nur in der Wahrnehmung der Elite Wiens, zu einer „Künstlerin“ emporgestiegen, hatte die Wiesenthal etwas Neues demonstriert: Bühnentanz an sich kann Kunst sein!
Am Werk der Wiesenthal war alles neu: Ästhetik und Konzeption eines Stücks, sowie der Auftrittsort selbst – ein Podium. Neu war die Auftrittsform als Solistin. Neu waren das Publikum und damit auch der Blick auf die Tänzerin, neu die Zielgruppe – zunächst Künstler. Neu war der Entstehungsprozess eines Werks: Schöpferin und Interpretin waren ein und dieselbe Person. Neu waren die Auswahl der Musik, sowie ihre Beziehung zur Choreographie. Und neu war, dass eine Künstlerin nur mehr eigene Choreographien tanzte. Neu waren der Tanzstil und die angewandte Tanztechnik, wobei die klassische Basis der eigenen Bewegungsart körperliches Fundament gab. Neu waren die Tanzschuhe, das ganze Erscheinungsbild der Tänzerin insgesamt mit ihren Kostümen, die, ebenso wie das offene Haar, in der Bewegung mitschwangen.
Mit ein Grund für eine Einschätzung solcher Art war, dass Grete Wiesenthal den Walzer und damit auch Wien in völlig unsentimentaler Weise zum Thema gemacht hatte. Es war ihr dabei gelungen, den als Gesellschaftstanz geübten Walzer auf eine andere, höhere Ebene zum getanzten Kunstwalzer zu heben, eine Entwicklung, die in der Musik längst vollzogen war. Dies war ihr – unter anderem – auch deswegen gelungen, weil sie sich auf den Walzer als Volkstanz besonnen hatte. Aus einem Dialog zwischen populärer Kunst, Hochkultur und Volkskunst entstanden, hätte die Wiesenthal, so hieß es weiter, „Winkel und Verstecke der menschlichen Seele“ gesehen und damit Innerstes nach außen befördert. Sieht man die Wiesenthal Strauß tanzen, formulierte man schließlich, wisse man, dass man „Wiener Kultur“ sehe. Von Persönlichkeiten wie Hugo von Hofmannsthal und Max Reinhardt wurde sie als Integrationsfigur dafür angesehen, den Tanz im künstlerischen Gefüge der Wiener Moderne – und auch dies war neu – auf eine gleichberechtigte Ebene neben die Literatur, die bildende Kunst und die Musik gehoben zu haben. Dadurch wurde Grete Wiesenthals Tanz Teil der Wiener Moderne. „Ihr Schritt ist Ton, ihr Kostüm Phantasie, ihre Bewegung Hauch von Wien“, hieß es.
„Tanzende, schwebende Kunst“
Schon in den Dreißigerjahren hatte es mit Toni Birkmeyer eine Persönlichkeit gegeben, die den „Walzerstil“ der Wiesenthal weitertrug, Dia Luca hatte wiederum daran angeschlossen. Ende der Sechzigerjahre kam es dann zu einer weiteren „Stafettenübergabe“. Aus Anlass des 150-jährigen Jubiläums der Akademie für Musik und darstellende Kunst wurden 1968 Festvorstellungen im Akademietheater gegeben, dabei war die damals dreiundachtzigjährige Grete Wiesenthal anwesend. Für diesen Abend choreographierten Hedi Richter und ihr kongenialer Partner Gerhard Senft einen Straußwalzer, der stilistisch von Wiesenthal geprägt war. Senft (1936–2009) war nicht nur durch seine Ausbildung mit dieser Tanzrichtung vertraut, er hatte auch die Titelrolle in der 1957 gesendeten Fernsehfassung von Wiesenthals „Der Taugenichts in Wien“ getanzt. Am Beginn seiner Karriere hatte er mit solistischen Kammertanzabenden und einem „Episoden“ genannten, musiklosen „Reigen“-Ballett im Theater in der Josefstadt an eine Tanzmoderne angeschlossen. 1973–1983 war er als Nachfolger von Dia Luca Ballettmeister an der Volksoper.
Nicht erst jetzt war die zweite Karriere der Hedi Richter angebrochen. In der Folge choreographierte sie für Wiener Bühnen, bei Festspielen und für Fernsehproduktionen (etwa eine regelrechte „Walzeranthologie“ für die sechsteilige Serie „Die Strauß-Dynastie“). 1985 folgte ein weiterer Karriereschritt. Eingeladen von Toni Birkmeyers Sohn Michael, zu dieser Zeit künstlerischer Direktor der Ballettschule der Österreichischen Bundestheater, begann Hedi Richter das Fach Wiesenthal-Technik zu unterrichten. Die für die Schule damit erlangte Unverwechselbarkeit konnte weltweit ausgespielt werden. Neben den obligaten Auftritten in der Wiener Staatsoper, wo die Walzerchoreographien der Hedi Richter – die sich nicht als Rekonstruktionen, sondern als eigenschöpferische, doch im Sinne Wiesenthals gehaltene Werke erwiesen – zu den Höhepunkten der Vorführungen zählten, konnte die Schule damit – vornehmlich auf Bällen – auch in vielen europäischen Ländern, aber auch in den USA und in China größte Erfolge erzielen. Dass gerade das Wiesenthal-Fach mit dem Rückzug von Hedi Richter 2014 aus dem Angebot der Ballettschule verschwand, zeigt, dass Wien tatsächlich anders ist: Wie es offenbar auch in anderen Künsten getan wird, gehört es zu der Stadt, die eigene – weltweit bejubelte – Wiener Moderne nicht zu pflegen.
Die Erinnerung an Hedi Richters Tanz lässt immer wieder an Aussprüche denken, die, in Zusammenhang mit Grete Wiesenthal gemacht, für Hedi Richter paraphrasiert werden könnten. So schreibt Hugo von Hofmannsthal – dessen Dichtung Hedi Richter bereits für eine ihrer choreographischen Absolventenarbeiten an der Akademie herangezogen hatte – an Grete Wiesenthal, in ihren Tänzen sei der Geist von „Schuberts Liedern Melodie und in Strauss’ Walzern Rhythmus geworden“. In ihrer Erscheinung wäre dieser Geist gebunden gewesen, wäre bewegtes Bild, als „schwebende Gegenwart“ „noch einmal Erscheinung“ geworden. Dasselbe mag für Hedi Richter gelten.