Die Ausstellung „Alles tanzt. Kosmos Wiener Tanzmoderne“ im Theatermuseum Wien wirft einmal mehr die Frage nach der anhaltenden Wirkung dieser Tanzrichtung auf. Überlegungen dazu erübrigen sich in bestimmten Fällen insofern, als einige nunmehr um die hundert Jahre alten Vertreterinnen noch immer aktiv sind. Dass die Damen – obwohl sie ihre künstlerische Heimat anderswo fanden – in engstem Bezug zu Wien stehen, ist ebenso festzuhalten, wie ihre offensichtliche künstlerische Verwandtschaft mit einem heute erfolgreichen jungen Mann – Hofesh Shechter.
Jede dieser sechs in der Wiener Tanzmoderne wurzelnden Tänzerinnen – Elena Vedres, Eileen Kramer, Hedi Pope, Shona Dunlop MacTavish, Wera Goldman, Vija Vetra – war Schülerin von einer oder mehreren Ikonen dieser Bewegung: von Grete Wiesenthal (1885–1970), Gertrud Bodenwieser (1890–1959), Gertrud Kraus (1901–1977) oder Rosalia Chladek (1905–1995). Der Reigen der sechs hier vorgestellten „Diamond Ladies“ des Wiener historischen Modernen Tanzes beginnt – altersmäßig gereiht – mit Elena Vedres, die als Leni Baumberger 1911 in Langenthal in der Schweiz geboren wurde und als Chladek-Tänzerin Karriere machte. Die 1948 von der heute 107-Jährigen in Mailand gegründete Schule, das Studio Vedres, existiert noch immer. Drei Jahre jünger als Vedres ist die ehemalige Bodenwieser-Tänzerin Eileen Kramer. Die 1914 in Sydney Geborene lebt vielbeachtet und noch immer auftretend in ihrer Geburtsstadt. Hedi Pope, 1920 als Hedi Politzer in Wien geboren, war Schülerin von Grete Wiesenthal. Seit 1939 in den USA ansässig, führte die heute 99-Jährige bis 1982 eine Schule in Virginia. Ebenso alt ist Shona Dunlop MacTavish, deren Karriere eng mit Bodenwieser verknüpft war. Sie wurde 1920 in Dunedin, Neuseeland geboren, wo sie auch heute wohnhaft ist. Wera Goldman, 1921 in Wien geboren, tanzte unter anderem bei Gertrud Kraus. Sie ist in Tel Aviv beheimatet. Die jüngste dieses Sextetts ist die 1923 als Erna Greiner in Riga geborene Vija Vetra, sie trumpft aktuell mit Performances auf. Ihre Lehrmeisterinnen waren Wiesenthal, Chladek und Bodenwieser.
Hofesh Shechter, 1975 in Jerusalem geboren, ist ein heute in England wirkender Israeli. Erkennt man im Werk dieses Choreografen auf den ersten Blick kaum einen Zusammenhang zur Arbeit der erwähnten Künstlerinnen, so tauchen in den tänzerischen und choreografischen Mitteln, die der an der Jerusalem Academy of Music and Dance Ausgebildete in dem 2017 uraufgeführten „Grand Finale“ anwendet, eine ganze Reihe von Merkmalen auf, die man, beginnend mit dem Bewegungsfundament, als Berührungs- und Anknüpfungspunkte zu den „Alten“ sehen könnte.
Gibt es einen gemeinsamen Nenner?
Auffallend an den sechs Tänzerinnen, die verschiedenen Ländern, sogar unterschiedlichen Kontinenten entstammen, ist, dass auch die nicht in Wien geborenen einen besonderen Bezug zu dieser Stadt haben. Heute wissen wir, dass es die zum Teil institutionalisierten Wiener Ausbildungsstätten für den Modernen Tanz waren, von denen ab den 1920er-Jahren international gesehen Sogwirkung ausging. Innerhalb von nur wenigen Jahren war Wien zum Zentrum einer Körperbildung geworden, die es ermöglichte, sich tatsächlich „frei“ bewegen zu können und, darauf aufbauend, auch künstlerisch tätig zu sein. Wien war zu jener Großstadt des deutschsprachigen Raums geworden, in der die in den Zwanzigerjahren aktuellen modernen Ausbildungsstränge einer „Körperbewegung“ geballt angeboten wurden. Erklärtes Ausbildungsziel war es, körperliche und geistige „Ganzheitlichkeit“ zu erlangen, was hieß, dass „Körperbildung“ das Ergebnis eines Prozesses der „Bewusstseinswerdung“ sein sollte und nicht Resultat repetierender Nachahmung und automatisierter Übungsvorgänge, die nur – der Meinung der „Modernen“ nach – Fertigkeiten entstehen ließen. Nur eine solcherart entstandene Ganzheitlichkeit ermögliche es, so das pädagogische und künstlerische Credo, jene körperliche Freiheit zu erlangen, die man in seinem Streben nach tänzerischem Ausdruck benötige. Dieser Ausbildungsansatz ist heute Allgemeingut jeder Tanzmoderne. Es ist daher auch nicht weiter überraschend, wenn Shechter in einem Interview mit Wiebke Hüster („Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 22. 12. 2013) von der von ihm angestrebten „Freiheit“ des körperlichen Ausdrucks spricht. Gerade dies zu erreichen, gelang den Wiener Ausbildungsstätten offenbar hervorragend.
Wien – Sehnsuchtsort der Tanzmoderne
Insbesondere nach dem gravierenden Bruch alter Ordnungen war es die besondere Leistung Wiens, die Bedeutung der verschiedenen zeitgenössischen Ausbildungsstränge für Tanz erkannt und sie auch für Unterrichtszwecke bereitgestellt zu haben. Während es in Deutschland erst Ende der Zwanzigerjahre zu Institutionalisierungen von Schulen kam und Studierende sich bis dahin eher um die großen Persönlichkeiten der Tanzmoderne – Rudolf von Laban, Mary Wigman – scharten, formierten sich in Wien schon um 1920 drei wichtige Ausbildungsstätten. Von diesen dreien war die an der Staatsakademie für Musik und darstellende Kunst etablierte sicherlich die wichtigste. Mit Gertrud Bodenwieser von 1920 bis 1938 als führender Lehrkraft, war die „Akademie“ mit ihrem Lehrangebot, weltweit gesehen, vorbildwirkend. Dazu kam eine von 1921 bis 1927 von Ellen Tels geleitete Schule, die ihren Sitz im Umfeld der Künstlervereinigung Hagenbund hatte. Die dritte und ebenfalls international renommierte Ausbildungsstätte war die Schule Hellerau-Laxenburg, ein Nachfolgeinstitut der Rhythmusanstalt Émile Jaques-Dalcroze in Hellerau, das seit 1925 in Laxenburg bei Wien beheimatet war. Herausragende Persönlichkeiten für die Tanzausbildung waren da Valeria Kratina und Rosalia Chladek.
Die drei Schulen hatten zwar einen jeweils eigenen Fokus, ihre ästhetischen Grundhaltungen ähnelten aber einander. Bodenwieser baute auf dem Nimbus Isadora Duncan, dazu auf Jaques-Dalcroze und Bess M. Mensendieck, brachte aber bereits Bewegungsideen von Laban mit ein. Dasselbe galt für die aus Moskau gekommene Tels, sie verband den in Russland so populären und dort als „plastisch“ bezeichneten Tanz der Duncan mit dem Delsartismus. Hellerau-Laxenburg hatte die Rhythmusbewegung von Jaques-Dalcroze zur Basis, stützte sich aber nunmehr verstärkt auf die Methode von Mensendieck, der das Erspüren von Körperfunktionen zugrunde lag. Daraus entwickelte sich das Chladek-System. Dazu kam mit Grete Wiesenthal eine für sich stehende, von allen geschätzte Größe. Nachdem ihre Schwestern Elsa und Berta bereits 1912 eine Schule eröffnet hatten, unterrichtete Grete ab 1919 in verschiedenen eigenen Studios, ab 1934 auch an der Akademie. Auch über den Zeitpunkt hinaus, zu dem die politische Lage das freie Reisen von Deutschland nach Österreich wesentlich erschwerte, blieb Wien ein erster Ausbildungsort für die Tanzmoderne, eine Gegebenheit, die 1938 abrupt gestoppt wurde.
Wie aber kam dieses Ausbildungsangebot nach Palästina und wie könnte es einen heute tätigen Choreografen beeinflusst haben? Und könnte – nicht nur – im Fall Shechter, von einem noch heute wahrnehmbaren Körpergedächtnis, einem Bewegungswissen die Rede sein, das heutiges Tun mit der Arbeit der – Wiener und auch deutschen – Pionierinnen in Palästina und Israel verbindet?
Ausbildung in Palästina
Der Wunsch, in Palästina eine Möglichkeit zu finden, sich tänzerisch ausbilden zu lassen, war ganz offensichtlich nicht nur das Anliegen der seit Generationen dort ansässigen, sondern im besonderen Maß auch jener, die aus verschiedenen Gründen dorthin gekommenen waren. Gemäß der völlig verschiedenen gesellschaftlichen Schichten und ihren künstlerischen und religiösen Anschauungen, zeichneten sich unterschiedliche Motivationen ab, sich dem Tanz zuzuwenden. Die sich in Palästina rasch etablierende tänzerische Ausbildung stand in engstem Bezug zu Wien und der dort aktuellen Tanzmoderne. Die aus Wien gekommene, bei Bodenwieser ausgebildete Margalit Ornstein – zu ihren Schülern zählte Moshe Feldenkrais – wandte sich ab 1922 in ihrem Tel Aviver Studio, wo sie unter anderem die körperbildnerischen Mensendieck-Prinzipien anbot, einer städtisch-theatralen Variante des künstlerischen Tanzes zu, ein Zweig, der durch die seit 1935 in Palästina ansässige Gertrud Kraus wesentlich gestärkt wurde. Im Gegensatz dazu strebten Yardena Cohen und Lea Bergstein, die beide in Wien studiert hatten, die Etablierung ländlicher Festgemeinschaften an, die von den Ideen Labans ausgingen. Anders wiederum der religiöse Tanz, der seine Themen in der Bibel fand. Schon in den frühen Dreißigerjahren gelang es – durch die Initiative einer in Wien an der Akademie ausgebildeten Pianistin –, die Palestine Academy zu gründen, die der „music and the art of music“ gewidmet war. Der Komponist Josef Tal leitete diese Ausbildungsstätte, 1948 wuchs sie unter seiner Leitung zur Jerusalem Academy of Music and Dance. Zu den Unterrichtenden gehörte Gertrud Kraus. 1958 wurde diese Ausbildungsstätte, an der sich eine eigene Tanzabteilung etablierte, in Rubin Academy umbenannt. Kraus blieb auch weiterhin die wichtigste Tanzrepräsentantin des Landes. Ab der Mitte der Fünfzigerjahre, nach einem Israel-Gastspiel von Martha Graham, wurde die amerikanische Tanzmoderne zu einer wichtigen Basis für die Tanzausbildung in Israel. In der 1964 gegründeten Batsheva Dance Company fand sich eine Plattform, diese Moderne zu pflegen und weiterzuentwickeln. 1990 übernahm Ohad Naharin die Leitung dieses Ensembles, Shechter begann hier seine Tänzerkarriere.
Aktiviertes Körpergedächtnis?
In Hofesh Shechters „Grand Finale“ – ein Stück aus dem Jahr 2017 – erlebt man, abgesehen von der Wucht des ersten Eindrucks, Momente, die die an der Geschichte des Tanzes Interessierten fast wie ein Keulenschlag treffen. Der Grund dafür scheint auf den ersten Blick aberwitzig. Immer blitzen Momente auf, die wie historische Ausrufezeichen im zeitgenössischen Agieren anmuten, wie lebendig gewordene fotografische Dokumente der Wiener Tanzmoderne! Die Welt der Jugend von Shechters Vorfahrinnen taucht auf. Plötzlich hat man Teile Labanscher Chöre vor sich, dann wieder Konfigurationen à la Bodenwieser oder Kraus, schließlich sieht man die (wie zu Gott) emporstrebenden Körper der Religiösen, dazwischen das energiegeladene Springen der Volkstänzer.
Versucht man diese Images im Gedächtnis zu bewahren, um ihrem Ursprung nachzugehen, tut man gut dran, jene Ummantelungen zu entfernen, die zwar erheblicher Teil des breiten Erfolgs des Werks sind, die aber dazu verleiten, die eingesetzten Mittel zu übersehen. Zumindest drei solcher Schichten sind abzubauen: Die Lautstärke der Musik, des Weiteren das bewusste Zeigen großen physischen – insbesondere männlichen – Körpereinsatzes, dazu ein Beat, der den Zuschauern Möglichkeit bietet, die zur Schau getragene Energie ganzkörperlich wippend mitzuerleben. Ist man diese Äußerlichkeiten einmal los, so kommen angesichts des Stücks eine Fülle von Kennzeichen und Leitsätze in den Sinn, die die Vertreterinnen der Tanzmoderne nicht müde wurden zu wiederholen und die auch Charakteristika für die genannten Tänzerinnen sind.
Zuallererst sei aber auf eine Begabung Shechters hingewiesen, die Teil der Utopien der Tanzmoderne war: Shechter ist sowohl Schöpfer wie Interpret in einer Person und das in gleich doppelter Hinsicht. Denn er war am Beginn seiner Karriere als Tanzschöpfer nicht nur zugleich Choreograf und Interpret, sondern auch Komponist und Ausführender der Musik. Damit ist aber eine Hauptforderung der historischen Moderne erfüllt. Denn die selbst und eigens für das Werk kreierte Musik sollte Ausgangspunkt – und auch dies trifft für Shechter zu – des künstlerischen Tuns sein. Und als ausgebildeter Schlagzeuger bedient er sich ebenjener Instrumente, die von der Tanzmoderne als nach außen gelangende Körperklänge verstanden wurden. (Die Wichtigkeit verwendeter Schlaginstrumente, zu denen auch außereuropäische gehörten, wurde oft – etwa von Rosalia Chladek und Mary Wigman – betont.) Unterschiedlich ist jedoch Shechters Art und Weise des Umgangs mit der Musik, denn er setzt sie auf mehrfachen Ebenen ein. In „Grand Finale“ tut er dies durch das Über- und Gegeneinander von Live-Musik und Soundtrack. Die Ausführenden wiederum nehmen den einen oder auch den anderen Rhythmus auf oder arbeiten im Gegensatz dazu.
Wiederaufgenommenes Bewegungswissen
Im Folgenden seien einige Leitideen aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren erwähnt und diese dialogisierend mit Shechter in Verbindung gebracht: Sein analytisches Interesse an Möglichkeiten des körperlichen Ausdrucks erinnert an jenes von Vedres, das auf Chladek baut. Shechters Bestreben nach einer „Verbindung zwischen Bewegungskoordination und körperlichem Ausdruck“ (Interview mit Hüster) lässt ebenfalls an Chladeks scharfen Blick auf Körperfunktionen denken. Hier wie dort wird Folgerichtigkeit sichtbar, das Wissen einer Bewegung um die andere. Mit den „Alten“, mit Kramer aber auch den anderen genannten Tänzerinnen, hat Shechter gemein, den Fokus auf das innere Erleben zu richten, um zu erspüren, „wie es sich von innen anfühlt“. Dabei gehe es dem heute über Vierzigjährigen nie um Schönheit, eine Forderung, die wiederum konstitutiver Teil des Credos der historischen Tanzmoderne war. Die Überzeugung der zweiten Generation Moderner, Strukturen schaffen zu müssen – die Pioniere waren meist ohne Ordnung losgebrochen –, wird von Shechter geteilt. Obwohl ihm dies zunächst, körperlich gesehen, wenig komfortabel erscheint, denn es werde, so Shechter, erwartet, in die vorgegebenen Strukturen hineinzuwachsen, was einen Prozess der Anpassung nach sich ziehe. Aber: „Es geht im Leben immer darum, Strukturen aufzubauen und doch innerhalb der Strukturen frei zu bleiben.“ Auch in diesem Zusammenhang beschreibt Shechter seine Arbeit als Spannung zwischen dem Instinktiven, dem Loslassen dem Nicht-Unter-Kontrolle-Haben, dem Emotionalen einerseits und der Kontrolle andererseits, wo alles einen Sinn ergebe. In die Schiene der „Alten“ passt sein Ausspruch „es geschieht mir so“, wonach der energetische tänzerische Ausdruck, beispielsweise von Wut, durchaus nicht narrativ gemeint sein muss, wozu Shechter hinzufügt, man könne durchaus auch etwas „in einem abstrakten Kontext stehen lassen“. Dies lässt die Zuschauer, die etwas ganz Konkretes verstehen möchten, oft irritiert zurück.
Evozierte Bewegungsstimmungen
Weitere Gemeinsamkeiten sollen nur kurz gestreift werden. Besonders augenfällig ist Shechters virtuoser Einsatz von Props und Licht, der wiederum einen ebenso virtuosen Umgang mit dem Raum nach sich zieht. Beides waren auch herausragende Merkmale der historischen Tanzmoderne. Kramers Verwendung von Stoffbahnen, Popes Einsatz von Kostümen als eine in den Raum schwingende Bewegung, wären hier zu nennen. Überaus aufschlussreich Shechters Aussage, er verstehe seine Arbeit als Kommentar auf das Leben in Metropolen, ein Statement, das er selbst insofern relativiert, als er seine Vorliebe für die in Volkstänzen gezeigte Energie hervorhebt. Besonders, und damit wird ein weiterer wichtiger Berührungspunkt genannt, würde er die in diesen Tänzen entstehende Gemeinschaft schätzen. Gerade dies, die Etablierung einer solchen Gemeinschaft, war zentrales Anliegen sowohl des kulturellen Lebens in Palästina wie der Tanzmoderne an sich.
Berührungspunkte mit den eingangs vorgestellten Damen finden sich auch in deren Auseinandersetzung mit Tanzethnologie, der ein großer Teil ihrer Karrieren gewidmet war. Goldman befasste sich mit Jüdischem und Indischem Tanz sowie mit dem der Aborigines, Vija Vetra mit Indischem und Spanischem Tanz, Kramer ebenfalls mit Indischem Tanz und Dunlop MacTavish mit Tänzen von Eingeborenen und deren Stammesritualen. Und es sind auch Rituale, die die Vertreterinnen der historischen Tanzmoderne mit der Arbeit Shechters verbinden. So wie die nach Palästina gekommenen Juden und die Bewohner des jungen Staates Israel es anstrebten, in Gemeinschaften und den sich daraus entwickelten Ritualen eine neue Identität zu finden, setzt auch Shechter immer wieder ein Kollektiv ein, wobei die zu sehenden Rituale sehr oft religiösen Bewegungscharakter haben. Fast in Opposition dazu scheint eine weitere Vorliebe der „Alten“ wie des jungen Israeli zu stehen: die Liebe zur Musik des 18. Jahrhunderts im Allgemeinen und die „bewegte“ Bühnenrealisierung des Musiktheaters dieser Zeit im Besonderen. (Shechter: „Ich habe eine Abhängigkeit entwickelt von Barockmusik.“) Hatten die Modernen – vor allem Kurt Jooss – in den Zwanzigerjahren etwa die nun schon legendäre Händelrenaissance bewirkt, so war auch Shechter bereits an der „Realisierung“ einer Oper der Zeit beteiligt.
Nach all den gefundenen Kongruenzen bleibt zu betonen, dass es auch eine ganze Reihe von gravierenden Unterschieden zwischen Shechters Stück und der Arbeit der erwähnten Künstlerinnen bestehen. Obwohl es in „Grand Finale“ auch Passagen gibt, in denen die Ausführenden – ganz ähnlich den „Alten“ – in Bewegungsstimmungen zu ruhen scheinen, liegt der auffälligste Unterschied zu diesen wohl in Shechters brachialer Direktheit, mit der er seine Kommentare zur Welt und die daraus entstehende eigene Befindlichkeit auf die Bühne bringt. Die hämmernde Brutalität, mit der er seine Ansichten vermittelt, entspricht der heutigen Zeit. Schiebt man die Brutalität beiseite, wird jedoch Größe sichtbar. Diese entsteht – und dies sei resümierend festgestellt –, weil Shechter dem Beschauer Raum gibt, das zu finden, wonach er sucht. Während sich im heutigen Wien vor allem die in der historischen Tanzmoderne entwickelten pädagogischen Errungenschaften einen festen Platz im Unterrichtsangebot erobert haben, ist in einem Werk wie „Grand Finale“ zu erkennen, dass ein aus Israel stammender Choreograf heute auch mit den Mitteln der mitteleuropäischen (Wiener?) Tanzmoderne arbeitet und dabei sogar die verschiedenen Stränge, die sich seit den Zwanzigerjahren dort angesiedelt und geblüht haben, differenziert einsetzt und weiterführt. Dass dazu noch ganz andere Einflussbereiche kommen, versteht sich von selbst.
Die festgehaltenen Überlegungen sollen mit einem – als erdachtes Konstrukt – konzipierten Tanzabend, einer „Soirée imaginaire“, abgeschlossen werden, wobei die Utopie dieses Programms aber mehr an geografischen als an anschauungsmäßigen oder altersbedingten Distanzen liegt. Obwohl Shechter ganz offensichtlich dazu neigt, nicht zurückschauen zu wollen – er nannte eine 2009 für seine Kompanie kreierte Choreografie „The Art of Not Looking Back“ –, sei die Soirée dennoch „The Art of Looking Back“ genannt.
Soirée imaginaire
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Nachtrag: Shona Dunlop MacTavish, „known as New Zealand’s mother of modern dance and one of Dunedin’s treasures“ (Otago Daily Times) ist 99-jährig am 18. Juni 2019 in Dunedin gestorben.
Wera Goldman ist am 15. Mai 2020 im 99. Lebensjahr in Tel Aviv gestorben. In ihrer Geburtsstadt Wien nahmen 2019/2020 Filme über ihr Wirken in der Ausstellung „Alles tanzt. Kosmos Wiener Tanzmoderne“ breiten Raum ein.
Elena Vedres ist am 1. März 2021 im 110. Lebensjahr in Mailand gestorben. Sie war das letzte noch lebende Mitglied der Tanzgruppe Hellerau-Laxenburg, mit der Rosalia Chladek 1932 beim Pariser Concours de chorégraphie die Silbermedaille gewann.