Bei näherer Betrachtung der beiden legendären Wiener Kinderballette des 19. Jahrhunderts fällt zumindest dreierlei auf. Als extrem negativ muss das heute als menschenunwürdig angesehene Desinteresse an Kindern vonseiten der Eltern gelten; zum zweiten stößt der verblüffend offene Umgang mit der ständig zutage tretenden Pädophilie ab. Im krassen Gegensatz dazu steht nachhaltig Positives: In den Choreografien für ihre Kinderensembles drangen nämlich beide, Friedrich Horschelt wie Josephine Weiß, zur Essenz des Bühnentanzes vor, indem sie den Tanz selbst thematisierten.
Kinder in den täglichen Spielbetrieb miteinzubeziehen entsprach schon immer dem Theaterverständnis. Spielend und beobachtend erlernten sie so die verschiedenen Genres der Zeit, deren Strukturen sowie die Nuancen der Spielfächer. Im Theater fanden sich meist Möglichkeiten zur Ausbildung durch das tanzende Personal, zumal diesem auch daran gelegen war, die eigenen Kinder zu unterrichten. Im Theaterumkreis blühten wiederholt sogenannte „Theaterpflanzschulen“, die einen mehr oder minder geregelten Ausbildungsverlauf anboten. Herausragende Tanztalente intensivierten dann – meist von „Gönnern“ gesponsert – ihre Fertigkeiten bei europaweit bekannten Lehrerpersönlichkeiten.
Diese für den Bühnentanz üblichen Praktiken veränderten sich ab 1800, da das sich nunmehr für alle Publikumsschichten geöffnete Theater eine größere Zahl von AspirantInnen anlockte. Mitverantwortlich dafür war die immer beliebter werdende Kunstgattung Ballett, die auch in der Oper sowie im Unterhaltungstheater der Vorstadt eine Rolle spielte. Dass die neue Tänzerschaft oft aus niedrigen, teilweise erst kürzlich in die Haupt- und Residenzstadt zugewanderten gesellschaftlichen Schichten stammte – etwa Bewohner des nahe dem Theater an der Wien gelegenen „Ratzenstadls“ – ist eine nachvollziehbare Entwicklung. Nicht nur für die Angehörigen dieser Stände bot die Arbeit am Theater die Möglichkeit, gesellschaftlich aufzusteigen. Dass dieser Prozess des Aufsteigens keineswegs rosig war, ist vorstellbar.
Die Kläger sind nicht „standesgemäß“
Zuwanderung und Kinderschändung waren in Wien oft aktuelle Themen. Als etwa Filippo Taglioni 1821 das Debüt seiner von ihm selbst ausgebildeten Tochter Marie im Kärntnertortheater vorbereitete, hallte die Stadt von beidem wider. Taglioni selbst war mit seiner Familie schon kurz nach 1800 nach Wien zugewandert, die Dauer des Aufenthalts war ebenso ungewiss wie der Ort des nächsten Engagements. Inwiefern der Familienverband die Wiener Ereignisse um das Kinderballett als „normal“ erachtete, ist nicht überliefert.
Gilt heute harmonisches Familienleben als eines der Charakteristika des Biedermeier, so wirft nachstehendes Dokument – der Vertragsentwurf zwischen Aloys Wenzel Fürst von Kaunitz-Rietberg und dem Dramatiker Josef Alois Gleich – ein anderes Licht auf die Zeit. „Gegenstand“ des Kontraktes ist Gleichs minderjährige Tochter Louise. Kaunitz schreibt:
Bester Herr v. Gleich!
Nachdem wir gegenseitig die Übereinkunft getroffen haben, daß mich Ihre Tochter Louise Gleich mit Ihrer Einwilligung als Liebhaber erkennt, so sichere ich Ihnen folgende Bedingungen zu:
Erstens: Erhalten Sie von mir eine Versorgungsurkunde kraft welcher ich Ihrer Tochter von der Zeit an, als ich mich nicht mehr als ihren Liebhaber erkläre und betrage, lebenslänglich jährlich achthundert Gulden W. W. versichere.
Zweitens: Sichere ich Ihnen hiemit, und zwar wenigstens auf die Dauer von zwei Jahren, Wohnung und Holz, dann monatlich zweihundert Gulden W. W. zu, welches aber aufhört, sobald der Unterhaltbetrag zu laufen anfängt, das heißt, ich mich nicht mehr als Liebhaber ansehe und betrage.
Drittens: Stelle ich Ihnen Ihre in Gewahr habenden Schuldscheine zurück und schenke Ihnen 500 fl. W. W.
Viertens werde ich nicht ermangeln, zur besseren Ausbildung des Mädchens nach meinem Wunsche und freien Willen beizutragen, dagegen erwarte ich auch von ihnen Sorge zu tragen, daß Ihre Tochter so lange ich mich als ihren Liebhaber erkläre, nie von der ihr eingeprägten Sittsamkeit abweiche und mir mit untadelhaftem Benehmen zugetan bleibe (…)
Mlle Gleich wurde wenig später nicht nur als Soubrette, sondern auch als vorübergehende Ehefrau von Ferdinand Raimund bekannt. Der „ergebene Fürst“, wie sich Kaunitz im Vertrag unterschrieb, war übrigens zeitweilig Botschafter beim Heiligen Stuhl. Seine Gelüste waren stadtbekannt, sein besonderes Interesse galt dabei dem Kinderballett, das im Theater an der Wien unter der Leitung von Horschelt sogar zu einer Wiener Touristenattraktion wuchs. Der Erfolg erklärt sich zum einen aus dem offensichtlichen Vergnügen der Erwachsenen an der „niedlichen, kleinen Form“ der Kinder und an der – offenbar – erotischen Ausstrahlung des „unverdorbenen Gemüths“. Zeit und Familienverhältnisse sorgten dafür, dass Horschelt ein großes Reservoir an Kindern zur Verfügung stand: „Im Unglücksjahr 1817“, so heißt es in einer zeitgenössischen Quelle, „erfüllten bettelnde Menschen – Arbeiterfrauen mit kleinen Kindern neben hungernden Gewerbetreibenden – von früh bis spät Kirchen und Häuser, Straßen und Plätze. Wurden sie abgeschoben, dann sammelten sie sich rings um die Stadt, in die sie so rasch als möglich wieder zurückzukehren suchten.“
Kinderarbeit an sich war alltäglich. Nicht nur aus Gründen einer „Krankheit des Haupternährers“ waren Vier- und Fünfjährige ganztags beschäftigt, der Fürst hatte also leichtes Spiel. Einer schon 1817 angedrohten Auflösung des Kinderballetts suchte der Direktor und (seit 1814 auch Besitzer) des Theaters an der Wien, Ferdinand Graf Pálffy, mit einem Gesuch an den Kaiser entgegenzuwirken. Die fest engagierten Kinder mögen weiter agieren dürfen, um nicht „30 bis 40 Familien in den kalten Wintermonaten plötzlich dem drückendsten Mangel preiszugeben“. Von der Kanzel aus erhob Zacharias Werner, Dichter und Priester, seine Stimme. Er unterbrach seine abendliche Predigt, um den Weggang einiger Andächtiger mit einem klassischen Beispiel einer Täter-Opfer-Umkehr zu begleiten: „Diese laufen dem Teufel gerade in den Rachen – sie gehen zum Kinderballett!“
Das Ensemble, dem übrigens die Schwestern Elßler nie angehörten, wurde Ende 1821 aufgelöst, 1822 kam es immerhin zu einer Anklage gegen den Fürsten. Sie lautete auf „Schändung, Notzucht und Kuppelei in vielen Fällen“. Der Prozess, der unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt wurde, fand nicht nur in Wien größte Beachtung. Beim Studium erhaltener Prozessakten überrascht die Erkenntnis, dass die Kinder von ihren Eltern selbst angeboten worden waren. Nach Zeugenaussagen war der Andrang in den Vorzimmern des Fürsten dermaßen groß – „dreißig und noch mehr Mädchen, Eltern und Kupplerinnen“ –, dass der Fürst sich entschloss, Eintrittskarten auszugeben. Der Angeklagte absolvierte seinen Prozess mit angemessener Allüre, dies umso mehr, als die klagenden Parteien seiner Meinung nach nicht „standesgemäß“ waren, er also durch sie nicht angreifbar war.
Horschelt lässt tanzen!
In all den Jahren der andauernden Turbulenzen um das Kinderballett nimmt sein Gründer und Leiter eine sonderbare Stellung ein. Wohl durch die herausragende Qualität seiner Produktionen bedingt, gelang es Horschelt, außerhalb der Schusslinie zu bleiben. Seinen Status als einer der erfolgreichsten Choreografen dieser Jahre behielt er schadlos, er verließ zwar Wien, trat aber 1822 die Stelle eines königlich bayerischen Ballettmeisters in München an. Kraft dieser Stellung unterrichtete er auch die spätere Kaiserin Elisabeth im Gesellschaftstanz.
Friedrich Horschelt (1793–1876), aus einer Tänzerfamilie stammend, war 1806 zusammen mit seiner Mutter und drei Geschwistern nach Wien gekommen, wo die vier tanzenden Kinder sofort Sensation machten. 1810 nach Auslandsengagements wieder nach Wien zurückgekehrt, fungierte Horschelt seit 1814 im Theater an der Wien als Vizeballettmeister, seit 1816 als Wirklicher Ballettmeister. Da dieses Theater – das zeitweise unter derselben Leitung wie das Kärntnertortheater stand – kommerzieller ausgerichtet war als das Hoftheater, passte die Einrichtung eines Kinderballetts in das Konzept. Während Umstände, Formierung wie Unterhalt des Ensembles genauerer Untersuchung harren, ist durch halbjährliche Berichte an die Polizeioberdirektion ein Schulbetrieb, wo für fest engagierte Mitglieder – 30 bis 40 Kinder im Alter von vier bis zu 16 Jahren – unter anderem Religion und Elementargegenstände unterrichtet wurden. Die Zahl wurde je nach Bedarf auf mehr als 150 tanzende Kinder aufgestockt. Bei der Ausführung wurde auf „äußerste Präzision“ geachtet, ganz allgemein herrschten „Strenge, Zucht, Sitte und Ordnung“. SolistInnen erhielten zusammen mit ihren Familien freie Wohnung, ihnen wurde auch eine Benefizvorstellung zugebilligt. Bei Generalproben wurden – darauf wird ausdrücklich hingewiesen – Bier und „eine gute Masse geselchter Würstl“ ausgegeben.
Die Zugehörigkeit zum Theater an der Wien ermöglichte auch einige Freiheiten. Die Anlage eines Balletts unterlag weniger jenen strengen Regeln, denen ein mehraktiges „seriöses“ Ballett im Haupthaus unterworfen war. Hatten die in diesen Jahren in Wien tätigen, später international gefeierten Choreografen wie Filippo Taglioni, Jean Coralli, Jean Aumer mit Vertretern der alten Ordnung zu kämpfen, die Tanz in einem Ballett nur dann erlaubten, wenn er inhaltlich bedingt war, so ließ Horschelt – ob handlungsmäßig motiviert oder nicht – einfach tanzen! Dafür kreierte er für sein stetig wachsendes Kinderensemble, dessen Debüt man 1815 mit „Die kleine Diebin“ ansetzt, nicht nur Handlungsballette, sondern auch breit angelegte Divertissements, in denen die Kinder mit größtem Erfolg vor allem „charakteristische“ Tänze zeigten. Durch eine bis dahin nicht gesehene Exaktheit in der Ausführung, darüber hinaus mit prächtiger Ausstattung und großem Maschineneinsatz, erzielte Horschelt nicht nur die größte Bewunderung der Zuschauer, sondern schuf auch eine für die Präsentation eines Balletts nachhaltig wirkende Neuerung. Durch die Homogenität des Vorgeführten trat nämlich erstmals etwas klar zutage, was bis heute gültig geblieben ist: die Führung einer exakt und gleich agierenden Gruppe als eigene tänzerische Größe.
Schon in den späten Zehnerjahren war der wichtige choreografische Baustein „Gruppe“ – die Bezeichnung „Corps de ballet“ findet sich erst später – von Horschelt gepflegt und weiterentwickelt worden. Die von ihm geschaffenen Gruppenformationen wurden als sein besonderes Markenzeichen von anderen Choreografen übernommen. Im Laufe des Jahrhunderts eroberte sich die Gruppe – immer bedeutender werdend – ihren Platz innerhalb der Anlage eines Balletts, bis diese sich im 20. Jahrhundert aus dem Korsett der Handlung herausschälte und fürderhin für sich stand. In Zusammenhang „Gruppe“ merkt der deutsche Schriftsteller August Lewald ein überaus interessantes Detail an. Domenico Barbaja, seit 1821 Pächter des Kärntnertortheaters und gleichzeitig Direktor des Teatro San Carlo in Neapel, „veranlaßte, das Programm und die Zeichnungen“ der Hauptgruppen von Horschelts „Feuernelken“ (1821) zu verschaffen, um es durch Armand Vestris in Neapel auf die Bühne zu bringen. In Wien studierte Vestris es 1823 am Kärntnertortheater als „Die Fee und Ritter“ ein.
Zu den Bewunderern Horschelt᾽scher Produktionen gehörten nicht nur Kollegen, sondern auch Franz Grillparzer. 1817 arbeitete er an einem Melusine-Ballett für Horschelt, das er 1818 und 1819 überarbeitete, jedoch nicht fertigstellte. Unter den Mitgliedern des Kinderensembles befand sich von 1815 an auch eine gewisse Josephine Maudry (1805–1852). Von 1820 bis 1826 war sie Mitglied des Ballettensembles des Kärntnertortheaters, von 1841 bis 1844 Ballettmeisterin am Theater in der Josefstadt, das zu dieser Zeit sowohl über ein Ballettensemble wie ein Kinderballett verfügte. Dieses wurde von Mme Weiß, wie sich Maudry nach ihrer Verehelichung mit dem Sänger Eduard Weiß nannte, stetig ausgebaut. Dabei mögen Erscheinungsformen des Ensembles und der gegebenen Werke vergleichbar mit jenem von Horschelt gewesen sein, Gegebenheiten, Umstände, Zielsetzung waren jedoch völlig andere.
Nachzügler und Frühgeburten
Zwischen dem erzwungenen Ende des Horschelt᾽schen Kinderballetts und der Etablierung des zweiten großen Wiener Kinderensembles lag ein Vierteljahrhundert. Die Auswirkungen, die diese Jahre auf die Wiener Ballettszene hatten, waren massiv. Langsam, aber stetig hatte die Stadt – auch als Echo der gesellschaftspolitischen Entwicklungen – ihren Platz als Ort des künstlerischen Probierens und der ersten richtungsweisenden Versuche verloren. Schritt für Schritt und vielleicht als Konsequenz von dem, wie es heute heißt, „Äußerem Frieden und innerer Unterdrückung“ dieser Jahre ging ein künstlerischer Wandel einher. Das vielschichtige und mobile, an der Schauspielkunst, am Gesang und Tanz interessierte Publikum, das diese Fertigkeiten auch als Kunst auffasste, wandte sich – aufgrund der fortschreitenden Industrialisierung sich selbst in seinen Strukturen verändernd – neuen ästhetischen Werten zu. Es galt, eine „Nation“ zu etablieren, dazu die der Nation angemessene Kunst, ein veränderter Fokus, der neue Themen und Mittel nach sich zog. Verloren war dadurch vor allem die vibrierende Bewegung, die durch künstlerischen Austausch in die Stadt gebracht worden war. Längere Aufenthalte von Choreografen galten jetzt Ballettmeisterarbeit oder dem Transfer von Werken, insbesondere aus Mailand.
In den Vierzigerjahren begrüßte man etwa Jules Perrot nur mehr als Gast, 1836 hatte er in Wien noch seine erste große Chance wahrgenommen. Und die „eigene“ Fanny Elßler ließ sich viel zu selten, wie man fand, in Wien blicken. Hand in Hand damit ging ein langsames Verblühen der einst so regen Vorstadtszene, was wiederum den so intensiven Dialog zwischen Stadt und Vorstadt versiegen ließ. In diese Übergangszeit fällt das Wirken der Mme Weiß, ihrer Arbeit kommt dabei eine bemerkenswerte Brückenfunktion zu. Es gelang ihr nämlich, Teil einer Produktion zu sein, die als ein letzter Höhepunkt einer auslaufenden Ära zu sehen ist. Gleichzeitig war Mme Weiß eine der Ersten, die ein Unternehmen mit nationalem Anspruch führte. Mit dem Namen „Danseuses Viennoises“, den sie sehr geschickt ihrem Kinderensemble gegeben hatte, half sie, den Mythos der Stadt weltweit zu festigen.
„Giselle“ für die Vorstadt zugerichtet
Als Mme Weiß am vorstädtischen Theater in der Josefstadt zu arbeiten begann, war Franz Pokorny, Direktor und seit 1840 Besitzer des Hauses, bestrebt, mit den Theatern „der Stadt“ in Konkurrenz zu treten. Immer wieder gelang es ihm, bekannte Komponisten (Albert Lortzing, Giacomo Meyerbeer) für sich zu gewinnen. Daneben pflegte er noch in dieser Zeit Zauberspiele und romantisch-komische Singspiele, Possen und Parodien, für die das Theater der Vorstadt bekannt war. Den Tanz, der traditionsgemäß an diesen Genres großen Anteil hatte, stellte Mme Weiß.
Für Stücke dieser Art hatte sich das Team Librettist/Komponist mit Franz Xaver Told und Anton Emil Titl gebildet, es brachte Werke wie „Wastl oder Die böhmischen Amazonen“ (1841) oder „Der Zauberschleier oder Maler, Fee und Wirthin“ (1842) heraus. Gerade diese Produktionen, Sprechtheater mit Gesang und Tanz, sind oft als Genretransfer, genauer als Repliken auf erfolgreiche Produktionen der Stadt zu sehen. Dazu gehörte auch „Der Todtentanz“, 1843 uraufgeführt. Das „romantisch-komische Zaubermärchen“ war nichts anderes als eine Paraphrase auf „Giselle“, das im Mai 1842, also bereits ein Jahr nach der Pariser Uraufführung, am Kärntnertortheater erstmals in Wien gegeben wurde.
Der höchst erfolgreiche „Todtentanz“ in der Josefstadt verlegt die slawische Sage in Grenzbereiche unterschiedlicher Kulturen. Er erzählt von der in einem Lokalkolorit agierenden Erzsi, deren Geliebter aus einem anderen Land kommt. Sie versteht es, sich seines Ringes zu bemächtigen. Als sie erkennen muss, dass es sich dabei um einen Verlobungsring handelt, verfällt sie dem Wahnsinn und stirbt. Am Ufer eines Sees steigen bei Vollmond, begleitet von einem „unterirdischen“ Chor, Willis aus ihrer „Grabesnacht“. Gerufen von der Nachtschattenkönigin, erscheint Erzsi. Sie sucht den ans Grab gekommenen Geliebten dem Wirbelwind der Schwestern zu entziehen. Freiwillig begibt sie sich in deren todbringenden Kreis, dabei versteht sie es, den Geliebten lange im Bereich des ihn schützenden Grabkreuzes zu halten. Da ertönen die Morgenglocken, die Gefahr ist gebannt, die Willis sinken in ihre Gräber zurück.
Das Werk sei, so hieß es, „einzig“ in den Annalen des Theaters, denn Musik, Tanz und Szenerie bedingen einander und gehen eine Verbindung mit der Dichtung ein. Mme Weiß kam dabei mit ihren „Tänzen und Gruppierungen“ erheblicher Anteil zu. Die Ballettmeisterin bediente sich bekannter Ingredienzien: bunte Tänze mit Groteskgruppen, malerische Schreckensgruppen am Ende des ersten Teils. Daraufhin kleine malerische Gruppen, in weiße Schleierkleider gekleidet. Dazu Züge der Nachtschatten, die ihre Schleier verwenden, sich „geflügelt“ in den „Lüften“ zu bewegen. Dazu schon „Kleine“, also Kinder, die stets einen besonderen Erfolg für sich buchen konnten. Der Boden, so Überlegungen von Mme Weiß, mochte reif sein für ein nur aus Kindern bestehendes Ensemble.
„Les Danseuses Viennoises“
Auch im Falle des neuen großen Kinderballetts, das sich 1844 etablierte, kann also davon ausgegangen werden, dass es sich quasi aus dem Spielbetrieb heraus entwickelte. Mme Weiß absolvierte mit dem Ensemble zunächst Gastspiele im Gebiet der Monarchie und in deutschen Städten, an der Pariser Opéra debütierte man 1845 unter dem Namen „Les Danseuses Viennoises“. Und niemand Geringeres als Queen Victoria hielt das Gastspiel der „Viennese Children“ im Londoner Her Majesty’s Theatre in Zeichnungen fest. 1846 folgte das Debüt in New York, danach Gastspiele in mehr als zwanzig Städten in Nordamerika und Kuba. 1849 nach London zurückgekehrt, gastierte das Ensemble in französischen, italienischen und deutschen Städten. Nach sechs Jahren des Reisens wieder in Wien, wurde das Ensemble in laufende Ballettproduktionen des Kärntnertortheaters eingebaut und gab eigene Vorstellungsserien mit über dreißig Aufführungen in den Theatern an der Wien und in der Josefstadt. Nach dem Tod von Mme Weiß 1852 wurde das Ensemble aufgelöst. Die „Wiener allgemeine Zeitung“ prophezeite in ihrem Nekrolog auf die Ballettmeisterin: „Die frisch aufgeworfene Erde werden die Thränen ihrer Kleinen befeuchten, denen sie eine zweite Mutter war“.
Mme Weiß hatte für ihr Unternehmen ein eigenes Repertoire aufgebaut, das, im Unterschied zu Horschelt, vor allem aus „charakteristischen“ Tänzen bestand. Dazu zählten: „L᾽Allemande“, „La Hongroise“, „Pas des fleurs“, „Pas des amours“, „Polka“, „Les Moissonneurs“ „Hornpipe“, „Pas suisse“, „Tarantella“, „Tyrolienne“, „Cracovienne“, „Linzer Tanz“, „Pas polonais“, „Jaleo de Xérès“. Gerade dieser Tänze wegen löste das Ensemble in Amerika bei den europäischen Einwanderern große Begeisterung aus. Die Tänze wurden entweder als Einlagen oder als Nummernreihe gegeben. Der Erfolg des Ensembles, das auch durch Kinder aus den Gastländern aufgestockt wurde, leitete sich dabei aus einer bislang im alltäglichen Spielbetrieb eines Opernhauses nicht gekannten Exaktheit der Ausführung ab. Diese beschämte die Kräfte mancher Opernhäuser derart, dass etwa die Pariser Opéra trachtete, Mme Weiss selbst und zehn ihrer Tänzerinnen als separates Corps de ballet zu engagieren.
Auch die „Danseuses Viennoises“ hatten Schwierigkeiten mit der Polizei, wobei nicht ganz klar ist, wodurch die Behörden sowohl in Paris wie in London zum Eingreifen veranlasst worden waren. Zum einen waren da die Beschwerde führenden Eltern des bis zu fünfzig Mitglieder umfassenden Ensembles, das fast ausschließlich aus Mädchen zwischen fünf und zwölf Jahren bestand. Mit den Eltern waren Verträge ausgehandelt worden, wonach diese monatlich eine bestimmte Summe erhielten, die Kinder aber vollständige Verpflegung, Reisespesen, Bekleidung, dazu Unterricht und moralische Ausbildung. Die Art dieser Unterweisungen war offenbar weniger wichtig als die Sorge, die Kinder könnten keinen Religionsunterricht beziehungsweise die Erstkommunion nicht empfangen haben. Die Pariser Botschaft verwehrte – auf allerhöchsten Befehl aus Wien hin – zunächst die Visa für die Kinder. Die Besorgnis erhöhte sich, als das Ensemble nach London reiste, also in ein Land mit fremder Religion. Auch hier konnte die Sorge letztlich zerstreut werden.
Heute oft wegen des „Missbrauchs“ von Kindern kritisiert, erweist sich das Wirken der Mme Weiß balletthistorisch jedoch von enormer Bedeutung. Abgesehen davon, dass es charakteristische – bereits als „national“ apostrophierte – Tänze weiter popularisierte, festigte sich nunmehr die in gleicher Farbe gekleidete Gruppe als eine in exakter Gleichförmigkeit sich bewegende Körperschaft innerhalb der Werkanlage eines Balletts endgültig als selbstständige Größe. War der dramaturgische Baustein „Gruppe“, deren Mitglieder auch äußerst komplizierte Konfigurationen ausführten, in der Werkanlage der Ballette schon längst vorhanden, so erlangte die Gruppe erst durch die Präzision der Ausführung des Kinderballetts ihre bis heute bleibende Bedeutung.
Verschiedenes aus „teutschen“ Landen
Inwieweit die politische Lage die Gastspieltätigkeit des Kinderballetts beeinträchtigte, ist nicht überliefert. Was jedoch durch völlig verschiedene Zeichen zu erkennen ist, sind Merkmale, die letztlich nicht nur Inhalt und Form von Ballettproduktionen, sondern darüber hinaus sogar die bis dahin weitgehend ungeregelte Ballettausbildung selbst beeinflussten. Ein Vorbote für solch gravierende Veränderungen findet sich im Josefstädter „Todtentanz“. Gänzlich unmotiviert und sehr zur Verwunderung der „Einheimischen“ (des Stücks) taucht nämlich im I. Akt ein „junger Wandersmann aus Teutschland“ auf. Er komme aus Deutschlands Gauen, spricht und singt als „Liedermacher“ von „deutscher Vorzeit“, „deutscher Treue“, „deutscher Freundschaft“ und „deutschem Muth“. Eigenschaften der real noch nicht etablierten deutschen Nation halten damit auch in der Wiener Vorstadt Einzug. Erzsis Geliebter meint, der Liedermacher solle doch Teil des Festes sein, es sei Platz für „Dich und uns“.
Andere Charakteristika, die man gemeinhin mit deutscher Nation in Verbindung bringt, waren Zucht und Ordnung, dazu Drill, den man positiv verstand und sogar über das stellte, was heute unter „Kindeswohl“ verstanden wird. Mme Weiß und ihrem Ensemble kam diese Entwicklung in jedem Falle zugute, denn je genauer die Exaktheit und Homogenität der Kinder, desto größer war ihr Erfolg. Die Darbietungen des Ensembles ließ die Zuschauerschaft aber auch – mit größter Freude – an jene Demonstrationen denken, die mehr und mehr in den Fokus der Öffentlichkeit Deutschlands kamen und die sich immer größerer Beliebtheit erfreuten: die Vorführungen weiblicher Turnkunst!
Diese neue Fertigkeit berief sich auf Adolf Spieß (1810–1848), der sich von den „Vätern“ des deutschen Turnens (Johann Christoph Friedrich GutsMuths, Friedrich Ludwig Jahn) mit der Erkenntnis losgelöst hatte, dass gezielte Bewegung für Mädchen eine „gesunde und ausgeglichene Hausfrau“ heranbilden könne. Der Fokus lag auf Ordnungsverhältnissen, auf großer pädagogischer und ethischer Bedeutung, auf der Gemeinschaft und dem Eingebettetsein des Einzelnen darin, auf der „erziehenden“ Kraft des Turnens, wobei all dies freilich an die Gegebenheit des weiblichen Körpers angepasst wurde. „In kleineren und größeren Reihenkörpern“ bewegten sich Mädchen nun, auch zu Musik, wobei „Takt und Rhythmus die ordnenden und belebenden Elemente“ waren. Im Spieß᾽schen Mädchenturnen, bald als „weibliche Turnkunst“ apostrophiert, präsentierte sich „die ganze Schar (der Mädchen) als Ganzes“. Sie wurde nicht nur als harmonisch-ästhetische Leibesübung“ gesehen, sondern auch als „treffliche Gymnastik des Geistes“, dazu auch als „eine Schule der Ordnung und des Gehorsams“.
Dass in diesem „Volksklima“ ein im Gleichschritt agierendes Kinderballettensemble sich größter Beliebtheit erfreuen konnte, liegt auf der Hand. Den seriösen Vertretern der Ballettkunst musste angesichts des geordneten Könnens der Mädchen nunmehr klar sein, dass spätestens jetzt eine reglementierte Ballettausbildung auch in deutschen Landen von höchster Wichtigkeit war. Dies umso mehr, also es nun vor allem galt, auch im Ballett eine „nationale Kunst“ zu etablieren. Dass diese nur mit der Errichtung einer nationalen Schule ermöglicht werden konnte, verstand sich – damals – von selbst. Und es war die kluge Taglioni-Familie, die wieder einmal zum Vorreiter wurde. Ein Mitglied der deutschen Linie, der in Wien 1808 geborene und seit den Vierzigerjahren am Berliner Opernhaus fest verankerte Paul Taglioni, war es, dem es kraft seiner Persönlichkeit und seines auch von „allerhöchsten“ Wiener Kreisen entgegengebrachten hohen Ansehens gelang, für eine offizielle Ballettschule, die der neuen Hofoper angeschlossen sein sollte, die Statuten auszuarbeiten.
Schon 1858 hatte der aus Mailand stammende Virgilio Calori, der sowohl als Erster Solist wie als Lehrer engagiert worden war, Beschwerde an die General-Intendanz über den Zustand der Tänzerausbildung am Hoftheater eingereicht. Sein Vorschlag, nach dem Vorbild der Mailänder Schule Verbesserungen durchzuführen, wurde abgelehnt. Erst im Zuge der Übersiedelung der Oper in das neue Haus am Ring arbeitete Paul Taglioni zusammen mit seinem Stellvertreter Carl Telle Grundlagen aus, die am 1. April 1870 als „Organisations-Statut für die Ballett-Tanzschule am k. k. Hof-Operntheater“ in Kraft traten. Die wichtigsten Punkte des 24 Paragrafen umfassenden Statuts sind folgende:
Basis ist eine dreiklassige kostenlose Ausbildung, deren Abschnitte nicht in Jahren oder Theatersaisonen gegliedert sind, sondern sich nach dem Können der SchülerInnen richten. Der erste Abschnitt, in dem nicht mehr als vierzig Kinder zugelassen sind, umfasst meist drei, die beiden anderen meist zwei Jahre, wobei auch hier die SchülerInnenzahl um vierzig gehalten ist. Nur eine vor der Lehrerschaft abgelegte Prüfung ermöglicht den Aufstieg zur nächst höheren Stufe. Ein Curriculum ist offenbar zunächst nicht vorhanden. Aufgenommen werden Mädchen bis zehn, Buben bis zwölf Jahre, die Aufnahme von SchülerInnen von außen wird nur in Ausnahmefällen gestattet. Die Lehrerschaft setzte sich aus Mitgliedern des Hofopernballetts zusammen, die stilistische Ausrichtung ist daher nicht einheitlich. Leiter der Schule ist der jeweilige Ballettmeister, ihm ist es untersagt, privat Stunden zu geben. Der Unterricht findet am Vormittag im Ballettsaal der Hofoper statt, was bedeutete, dass die Kinder sich zwar, wie gefordert, sittlich einwandfrei zu betragen hatten, aber keine Volksschule besuchen konnten. Gegen diesen Umstand wurde erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts Protest eingelegt. Ein eigenes Curriculum ist erst durch eine Notiz von 1912 bekannt. Diese spricht auch von einer einige Jahre andauernden Vorbereitungsklasse, was das nunmehrige Aufnahmealter von sieben Jahren für Mädchen erklärt. Diese Vorbereitungsklasse umfasst „Rhythmus, Armbewegungen und Spitzengang“. Darauf werden „Attitude“ und zusammengesetzte Pas gelehrt, ein „Exercice“ (Übungen an der Stange), darauf ein „Adagio“ (Übungen in der Mitte), dazu Sprünge und Spitzentanz unterrichtet. Nicht ausdrücklich erwähnt, aber zweifelsfrei ebenso Unterrichtsfach ist der „Charaktertanz“. Darauf folgt eine Perfektionsklasse. Extra erwähnt wird der mimische Unterricht. Ein eigener Ballettschulkorrepetitor begleitet den Unterricht auf der Geige. Diese wird 1909 durch ein Klavier ersetzt.
Wesentliches Ziel der Ausbildung ist es, die SchülerInnen für Dienstleistungen des Opernbetriebs vorzubereiten. Für die Auftritte (nicht für die Proben) wird ein eigenes Honorar, ein „Spielgeld“, bezahlt. Die für die Proben und den Schulalltag nötige Kleidung muss aus eigener Tasche bezahlt werden, Kostüme werden vom Theater gestellt.
Schon 1874 kann das Corps de ballet aus der eigenen Schule rekrutiert werden, ein nationales Ensemble für das neue Haus am Ring war also im Entstehen. Dieses kommt bereits in den Werken des amtierenden Ballettregisseurs Carl Telle und seines Nachfolgers Josef Hassreiter voll zur Geltung.